Purim aus: „Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom“

Das Buch erzählt die Geschichte von Lina, einem jüdischen Mädchen, das Mitte der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre in einer Mittelschichtfamilie in Bagdad aufwächst.

Von Iris Noah

Diese Zeit ist geprägt von wechselnden Regimes, wirtschaftlicher Instabilität und zunehmender Ausgrenzung und Verfolgung der Juden im Irak nach dem Sechs-Tage-Krieg. Aus der Sicht eines Teenagers beschreibt Mona Yahia fesselnd das Alltagsleben, mit seinen Ereignissen, Gerüchen, Farben und Klängen in der Familie, in der Schule, mit Freunden und wie Verunsicherung, Angst und Bedrohung dieses einst sorglose, behütete Leben mehr und mehr überschatten. Lina bekommt zu spüren, wie sich die Atmosphäre im Land zunehmend radikalisiert und gegen die jüdische Minderheit richtet.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg wird die jüdische Schule, die Lina besucht, vom Staat übernommen. Ihr Vater vernichtet Familienfotos und Dokumente. Lina erfährt, daß die Verwandten, von denen Briefe aus Amerika kamen, in Wirklichkeit in Tel Aviv leben. Filme jüdischer Filmstars werden verboten, Nachbarn grundlos verhaftet, der Geheimdienst beschattet das Viertel, ein Gesetz friert jüdische Konten ein und verweigert Juden das Recht auf Pässe. Während sich die Landkarte im Nahen Osten radikal verändert, hat Lina ihre erste Menstruation, erlebt unbekannte Gefühle im Kontakt mit Jungen, verschlingt Liebesromane und entdeckt, daß im französischen Schullexikon die Flagge eines Landes, das alphabetisch zwischen Irland und Italien liegt, unsichtbar gemacht worden ist. Es kommt schließlich soweit, daß sie beschließt ihre Muttersprache, das Arabische, aktiv zu verlernen, indem sie jeden Tag einen Buchstaben mehr aus ihrem Wortschatz entfernt. Ihr Bruder Shuli zeichnet einem Mitschüler auf dessen Frage einen Davidstern an die Tafel. Er wird denunziert und wegen angeblicher zionistischer Propaganda verhaftet. Die Familie beschließt nun sobald wie möglich das Land mit Hilfe von Fluchthelfern zu verlassen um in Israel ein neues Leben zu beginnen.

Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom ist zugleich die Geschichte einer Kindheit, einer Familie und die Geschichte der Juden als Minderheit in der irakischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Ob Mona Yahia von einem unbekümmerten Purim-Abend erzählt, an dem man sich zu Kartenspiel, reichlichem Essen und anderen Vergnügungen trifft, vom Schwimmunterricht im Tigris. oder die Hinrichtung auf dem Tahrirplatz schildert, bei der 9 der 13 Ermordeten Juden sind – es sind immer unterschiedliche Geschichten und Erzählebenen gleichzeitig präsent. Ein vielfarbiges Gewebe entsteht, läßt Persönliches und Politisches deutlich werden. Die Erzählkraft und poetische Sprache von Mona Yahia wird in englischsprachigen Ländern nicht zu Unrecht mit Salman Rushdie verglichen. Zu Susanne Aeckerle als Übersetzerin kann man Verlag und Autorin nur beglückwünschen, denn sie hat die unterschiedlichen Sprachebenen stilistisch hervorragend übertragen.

Es geht in diesem Roman um grundlegende Fragen wie Identitäten, Zugehörigkeiten, Sprachen und Heimat sowie dem Verlust derselben.. Obwohl die Autorin die Verfolgung der Juden im Irak detailliert erzählt sind es nach der Lektüre die lebensfrohen Aspekte, die stärker in Erinnerung bleiben.

Gerade deshalb ist es gleichzeitig ein trauriges Buch, denn es zeigt – unabhängig vom Schicksal der irakischen Juden unserer Zeit – wie eine der bedeutendsten und wichtigsten jüdischen Diaspora-Kulturen vernichtet wurde. Die Kultur der irakischen Juden, die heute in der Welt verstreut sind, ist großenteils eine virtuelle. Auch in Deutschland – besonders in Hamburg – gibt es irakischen Juden. Das Buch von Mona Yahia beschreibt deren Hintergrund und macht uns somit auch mit der Geschichte einer Gruppe bekannt, die als unbekannte Minderheit unter uns lebt.

Mona Yahia:
Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom
Eichborn-Verlag Frankfurt 2002, 432 Seiten
Übersetzung: Susanne Aeckerle
(When the Grey Beetles Took Over Baghdad)

LESEPROBE: PURIM

Im sechsten Jahrhundert v. Chr. fällt Judäa an Nebukadnezar. Der Tempel wird zerstört, und alle Juden werden in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. Fünf Jahrzehnte später wird Babylon wiederum von den Persern erobert. Kyrus der Große erlaubt den jüdischen Gefangenen, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen. Aber Persien ist tolerant, und die Juden sind wohlhabend und assimiliert. Also bleiben sie in Babylonien und schicken Geld für den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem.

Kann sich jemand eine jüdische Königin in der Diaspora vorstellen? Das konnte nur in Susa geschehen, der Hauptstadt von Persien, als König Ahasverus sich in die schöne Esther verliebte und sie heiratete.
Ohne sich nach ihrem Herkommen zu erkundigen.
Persien ist reich und liberal, und Mordechai, Esthers Onkel, ist ein treuer Beamter des Königs. Aber er ist auch vorsichtig. Er rät Esther, ihre wahre Identität zu verbergen und über die Familienbande Schweigen zu bewahren.
Falls sich der Wind dreht. Falls Schwierigkeiten an die Tür der Geschichte klopfen.
Sein Name ist Haman. Er ist das personifizierte Böse und gerade zum Großwesir ernannt worden. Mordechai ist nicht bereit, sich vor ihm zu verbeugen. Haman ist beleidigt. Mordechai ist nicht nur ein Verräter, flüstert Haman dem König ins Ohr, alle Juden sind eine Gefahr für das persische Reich. Eine verrückte Behauptung, aber Ahasverus hört zu. Nicht nur Mordechai sollte gehängt, sondern alle Juden müssen vernichtet werden. Der Vorschlag eines Fanatikers, aber der König stimmt zu.
Mordechai drängt Esther, sich für ihr Volk einzusetzen. Sie zögert. Die Königin hat sich nicht in die Angelegenheiten des Königs einzumischen. Mordechai gibt nicht nach, die Gefahr ist äußerst drohend. Esther verzweifelt. Der König läßt jeden hinrichten, der unaufgefordert seinen Thronsaal betritt. Mordechai erinnert sie daran, daß ihr Schicksal mit dem ihres Volkes verbunden ist. Haman lost den richtigen Tag für die Ausrottung der Juden aus. Esther wendet sich an den König. Mordechai fastet und betet. Esther nutzt ihre Schönheit, um des Königs Augen zu öffnen. Haman ist derjenig der am nächsten Morgen gehängt wird, nicht Mordechai. Esther hat ihr Leben eingesetzt und ihr Volk vor der Vernichtung bewahrt.
— Und deshalb nennen wir das Fest Purim, was Losen bedeute erklärt Ustad Heskel, so wie er es jedes Jahr tut, nachdem er die Geschichte von der wunderschönen Esther, dem frommen Mordechai und dem bösen Haman erzählt hat, als wären sie Figuren aus dem Kasperletheater.
– Das Buch Esther zeigt die Verwundbarkeit der Juden in der Diaspora. Egal, wie sicher ihre Lage zu sein scheint, sie …

Und wie jedes Jahr übertönt die Schulglocke die Moral von Purim, zwanzig Sekunden lang durchdringendes Klingeln, das fünfundzwanzig Klassen von der Tyrannei des Unterrichts befreit. Keine Autorität, nicht mal eine biblische, kann die Kinder nach de Klingeln noch bändigen. Die kleinen Wilden bewerfen sich mit Kreide und Dattelkernen und brüllen aus vollem Hals. Ustad Heskel streicht sich den weißen, drei Wochen alten Bart, der ihn wie einen ständig trauernden Juden aussehen läßt. Nur durch die abrupte Wildheit der Kinder merkt er, daß seine Zeit um ist. Er ist in letzter Zeit fast taub geworden und hört nicht mal die Schulglocke. Ein hebräisches Gebetbuch fällt zu Boden. Er will losschimpfen aber der Schüler hebt das Buch auf, küßt es und steckt es in seinen Ranzen.

Ustad Heskel setzt seine sidarah auf, die Kopfbedeckung, die heutzutage nur noch ältere Juden tragen. Das Klassenzimmer ist bereits leer. Er lächelt. An Purim soll es fröhlich zugehen. Das Fest der Mjellah gehört schließlich den Kindern. Zwei Tage lang dürfen sie das tun, was Esther tat — um hohe Einsätze spielen.
Sein Kopf wackelt. Er kann seine Halsmuskeln nicht mehr richtig kontrollieren, aber er geht immer noch aufrecht, ein alter ustad, wie die Kinder ihn nennen, der älteste aller Lehrer, Vater des Jahrhunderts.
Als das Jahrhundert geboren wurde, erzählt man, hat ustad Heskel seinen Vater, den Rabbi, gebeten, ihn nicht auf die Jeschiwa zu schicken, sondern auf die Oberschule, wie die anderen Jungen aus der Nachbarschaft. Der Wunsch des Jungen hat den Vater geschmerzt. Doch wie konnte der Junge nur in jeder Glühbirne einen kleinen Messias sehen und das Herz seines Vaters nicht brechen?

Als das Jahrhundert acht Jahre alt war, macht ustad Heskel seinen Oberschulabschluß. Im Oktober desselben Jahres erklärten die Jungtürken alle Untertanen des osmanischen Reiches, Moslems und Andersgläubige, zu gleichberechtigten Bürgern, die gleich zu behandeln seien.
Waren die Osmanen wirklich bereit, das islamische Recht der dhimmis – der geschützten, gesellschaftlich niedriger stehenden religiösen Minderheiten – gegen solche Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auszutauschen? Ustad Heskel hatte allen Grund, das zu fragen.

Seine Begegnung mit der Gleichheit begann mit einem Nachteil, der Einberufung zum Militär. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde er in eine Uniform gesteckt und ohne Ausbildung an die Kaukasusfront geschickt. Seine Einheit war so schlecht gekleidet und versorgt, daß sie kaum eine Chance hatte, den Winter im Kaukasus zu überleben. Er desertierte bei der ersten Gelegenheit, floh vor den Kanonen der Russen und den Gewehren seiner eigenen osmanischen Offiziere. In einem Dorf tauschte er seine Uniform gegen Nahrungsmittel und einen abgetragenen Mantel ein. Das half ihm, sich als armenischer Flüchtling auszugeben, wenn er einem russischen Regiment begegnete, und als Kurde, wenn sich die Soldaten als Türken herausstellten. Sie glaubten ihm zwar nicht, fanden ihn aber zu unbedeutend, um eine Kugel an ihn zu verschwenden. Also ließen sie ihn frei, und er wanderte zerschlagen, hungrig und verloren durch die Berge Persiens. Zum Glück wurde er von einem Jeep englischer Missionare angefahren, denen der Unfall so leid tat, daß sie ihm anboten, ihn nach Kurdistan mitzunehmen. Von da aus ging er zu Fuß nach Bagdad und kam im Februar 1917 dort an.

Seine eigene Mutter erkannte ihn nicht. Sie reichte dem stinkenden Derwisch, dem Bettler, durch die Gitterstäbe des Tores Brot und eine Flasche Wasser und sagte, er solle verschwinden.
Einen Monat später marschierte General Maude an der Spitze der britischen Armee in Bagdad ein.
Die Osmanen sprengten das Talismantor und zogen sich zurück. Maude betrat eine Wüstenstadt, ohne Paläste und Vergnügungsparks und Obstgärten und Pavillons und Harems zur Unterhaltung der tausend und einen Soldaten. Man sagt, nach der Invasion der Mongolen im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert sei von der ursprünglichen abbasidischen Hauptstadt nichts erhalten geblieben. Ein jämmerlicher Phönix stieg aus der Asche, belastet mit einem legendären Namen, dem er nie gerecht werden konnte. Die Stadt, die Maude betrat, war ein Flickenteppich von Stadtteilen mit religiös und ethnisch unterschiedlicher Bevölkerung – Sunniten, Schiiten, Juden, Kurden, Armeniern, Persern, Türken – an beiden Ufern des Tigris verstreut. Jedes Viertel besaß seine Souks, Hammams, Khans und Gebetshäuser. Jedes war ein Labyrinth aus krummen Gassen, die sich zwischen überfüllten Häusern hindurchschlängelten und unter den überhängenden Balkons Schatten suchten. Dann gab es natürlich die Zitadelle, die Pontonbrücke, Krankenhäuser, Privatschulen, ein Telegrafenamt und den unfertigen Bahnhof, dessen Schienen einst nach Berlin führen sollten.

Als die Flutdeiche gebaut waren, dehnte sich Bagdad unter der britischen Kolonialverwaltung bald aus. Britische Architekten, die mit Winkelmaß und Lineal arbeiteten, legten neue Straßen an, breit und gerade, parallel zum Fluß und zueinander. Die Straßen wurden im rechten Winkel von Seitenstraßen gekreuzt, ebenfalls gerade und breit genug für arabanas, von Pferden gezogenen Kutschen. Die Runde Stadt wuchs nach Norden und Süden, zwei Pontonbrücken wurden hinzugefügt. Die geraden Linien veränderten in der Stadt das Gefühl für Entfernungen und die vierrädrigen Fahrzeuge das Zeitgefühl. Die Hauptstraße, Khalil Pascha, wurde begradigt und gepflastert. Arkaden und schattige Bürgersteige wurden zu beiden Seiten angelegt. Sie wurde in »Neue Straße« umbenannt und entwickelte sich zu Bagdads moderner Geschäftsstraße, auf der die Stadt ins zwanzigste Jahrhundert galoppierte. Die Wohlhabenden und Gebildeten zogen ihre Keffiyehs aus, ihre dischdaschas und zbouns und schlüpften in weiße Hemden, Krawatten und Anzüge. Sie hielten Zigaretten in der einen Hand, ließen durch die andere die Gebetsperlen gleiten, feierten die Effendis, die sie waren — eitle Gentlemen des Orients.
Sein oder nicht sein … Wie vertraut, auch auf arabisch, muß diese Frage für Maudes irische Ohren geklungen haben, als der General in einer der jüdischen Schulen Bagdads als Ehrengast an einer Aufführung von »Hamlet« teilnahm. Leider bekam General Maude zwei Tage später die Cholera und starb.

Was die jüdische Gemeinde betraf, die ein Viertel der Bevölkerung Bagdads ausmachte, so wurde sie durch die britische Besetzung wiederbelebt. Britische Gesetze waren so gradlinig wie die Straßen, die sie anlegten, und wurden, im Gegensatz zu den osmanischen, buchstabengetreu angewandt. Die Briten besteuerten unparteiisch und waren ungeschult in der Kunst der Bestechung. Die Vorhersehbarkeit ihrer Herrschaft schützte das Leben und den persönlichen Besitz. Die Geschäfte blühten nach dem Krieg. Für die Gebildeten, egal welcher Religionszugehörigkeit, eröffneten sich auf jedem Gebiet Möglichkeiten. Die schöne neue Welt klopfte an ihre Tür, und sie dachten nicht daran, sie fortzuschicken.

Ustad Heskel heiratete und eröffnete seine eigene Import-Export-Firma. Von seinem Bürofenster an der Neuen Straße aus sollte er jahrzehntelang den Finger am Puls der Stadt haben.
1921 wurde sein erster Sohn geboren. Er nannte ihn Faisal, nach dem ersten König des Irak, gekrönt im Sommer desselben Jahres. Kurz nachdem die Briten den König auf den Thron gesetzt hatten, gaben die Juden von Bagdad ihm zu Ehren einen Empfang in der großen Synagoge. König Faisal I., Sohn von Hussein, dem Scharif von Mekka, erstaunte seine Gastgeber und all die anderen bedeutenden Gäste, als er die Torarolle küßte und den Hacham Baschi, den obersten Rabbiner der Gemeinde, umarmte. Dann hielt er jene unvergeßliche Rede, in der er den Beitrag der Juden zur Entwicklung des modernen Irak hervorhob und betonte, beide, sowohl Araber wie auch Juden, seien Semiten, verwandt durch ihren biblischen Vorvater Sehern.

Die ganze Gemeinde nahm die Worte des Königs begeistert auf, und sein liberaler Geist brachte eine Generation patriotischer arabischer Juden hervor. Arabische Juden, was für ein Paradox, von patriotischen ganz zu schweigen. Es würde für die Kinder der Sechziger schon schwer genug sein, sich ein irakisches Parlament vorzustellen, aber noch dazu eines mit Sitzen für Juden! Sie würden sich genausowenig vorstellen können, daß jüdische Dichter in den zwanziger und dreißiger und sogar noch in den vierziger Jahren Gedichte in Arabisch, ihrer Muttersprache, geschrieben hatten und daß jüdische Journalisten ihr neues Königreich, ihr watan, ihr Heimatland, ihre Heimaterde mitgestalten wollten. Watan, was ist das? würden jüdische Kinder fragen, die ein halbes Jahrhundert später geboren wurden. Wie konnte man von Erde, dem nackten Staub unter den Füßen, verblendet werden?

Pferde trabten durch die gepflasterten Straßen. Strom- und Telegrafenmasten, so hoch wie Palmen, wurden aufgestellt, an denen Kabel hingen, wie der Beginn eines Fadenspannspiels. Straßenlaternen brannten die ganze Nacht, machten das Sternenlicht überflüssig, und, viel später, romantisch. Abwasserkanäle wurden unter den Straßen gegraben, die Häuser wurden numeriert, eine neue Währung wurde eingeführt, und Briefmarken wurden gedruckt. Aus dem Chaos wurde allmählich Ordnung.

1932 beendeten die Briten ihr fünfzehn Jahre währendes Mandat. Der Irak war der erste arabische Staat, der seine Unabhängigkeit bekam und in den Völkerbund aufgenommen wurde. Von seinem Bürofenster an der Neuen Straße aus sah ustad Heskel die letzten britischen Truppen abmarschieren.
Bitte, geht nicht … bitte laßt uns mit den Arabern nicht allein, rief eine Stimme ihnen nach.
Sie kam aus dem hinteren Teil seines Büros. Ustad Heskel drehte sich um, aber er war allein im Raum. Das vor kurzem installierte Telefon klingelte.

Überall in der Hauptstadt entstanden Grünflächen. In den neuen Wohnvierteln wurden öffentliche Parks angelegt. Ummauerte Gärten umgaben die neuen Häuser, ersetzten den Innenhof, das Herz des orientalischen Hauses. An Straßenkreuzungen wurden runde Rasenflächen angelegt, Blumen und Büsche wuchsen auf dem Mittelstreifen der Avenuen, Eukalyptusbäume säumten die Bürgersteige. Aber die Wüstenstadt verwandelte sich weder in eine Oase, noch brachte das Grün Halbtöne in die Ansichten der Bagdadis oder kühlte ihr Temperament ab.
Die modernen Viertel, die sich an gesellschaftlichen Schichten orientierten, brachen die jahrhundertealten religiösen und ethnischen Trennungen auf. Wie Hunderte anderer jüdischer Familien, zog ustad Heskel mit seiner Frau und den sechs Kindern aus dem Süden in ein Viertel des gemischten Mittelstands.

1933 starb König Faisal, und sein Sohn Ghazi folgte ihm auf den Thron. Die Prozession des jungen Königs führte an ustad Heskels Büro an der Neuen Straße vorbei, die bald darauf in Raschid-Straße umbenannt wurde.
Aber kaum war die Stadt wieder ihren Besitzern übergeben worden, da zogen bewaffnete Stammesangehörige vom mittleren Euphrat durch die Straßen, protestierten gegen die nationale Wehrpflicht und die Landreform. Die Armee wurde ins ganze Land entsandt, um den Aufstand zu unterdrücken und die Stämme der Autorität des Staates zu unterwerfen. Bei ihrer Rückkehr marschierten die siegreichen Soldaten durch die Straßen der Hauptstadt. Blumen und Rosenwasser regneten von den Dächern auf die hübschen Jungs in Uniform herab. Auch Politiker wandten sich ans Militär, wenn im Kabinett Streit zu schlichten war. Oft flogen Militärflugzeuge dröhnend über die Stadt. Ein Putsch wurde verkündet, der Fall einer Regierung, ein neuer Führer. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kam es fünfmal zum Putsch. Jeder wurde im Radio begrüßt. Aufgrund der angezweifelten offiziellen Berichte entstanden Gerüchte. Die Leute verachteten ihre Politiker, machten sich über ihre Reden lustig, tratschten über Palastintrigen und schoben alle Schuld auf die Engländer. Dann klapperten die Würfel, Kaffee wurde getrunken, und die Radiomusik dröhnte wieder los. Man sagt, Bagdadis tanzen zu jeder Melodie, die man ihnen vorspielt.

Aber am leidenschaftlichsten tanzten sie zu den Hymnen des Nationalismus und nahmen sich ein Beispiel an den Nazis. Hatte der Führer das deutsche Volk nicht vereint und es vor der nationalen Schande gerettet? »Mein Kampf« erschien auf arabisch, als Fortsetzung in einer Lokalzeitung. Kinderwagen mit Jungen, die nach Hitler, Himmler und Rommel benannt waren, wurden immer häufiger. Beim Barbier, während das Rasiermesser über die glatte Fläche seines eingeschäumten Gesichtes glitt, merkte ustad Heskel plötzlich, auf welchen Sender das Radio eingestellt war. Schneller, als jede Eisenbahn hätte sein können, übertrug Berlin Sendungen auf arabisch direkt nach Bagdad. Demonstrationen gegen die Briten nahmen zu, gegen ihre Palästinapolitik und gegen den Zionismus. Führende Köpfe der jüdischen Gemeinde unterschieden öffentlich zwischen Judentum und Zionismus und distanzierten sich und ihre Gemeinde von letzterem. Ohne Erfolg. Angriffe gegen Juden auf der Straße hörten nicht auf.

Traue nie einem Moslem, nicht einmal im Grab, sagt ein jüdisches Sprichwort.
War es ein Fehler gewesen, aus dem jüdischen Viertel auszuziehen? Fiel er in dem gemischten Viertel auf? Eine Furcht, älter als er selbst, wuchs in ustad Heskels Herz. Seit Jahrhunderten war es Juden verboten, eine Waffe zu tragen und sich gegen einen Moslem zu wehren, sogar mit der bloßen Hand. Kein Wunder, daß das Bild des Juden in der moslemischen Welt das eines Schwächlings war, eines verachtenswerten Feiglings. Aber wo konnte er das Kämpfen lernen? Im Krieg hatte ustad Heskel nur fliehen gelernt. Vielleicht war er tatsächlich ein Feigling. Wer würde seine Familie verteidigen, wenn es nötig werden sollte? Die britische Armee war zu weit weg, und obwohl er sich immer noch nach den jüdischen Gebräuchen richtete, war ihm die Sprache Gottes schon lange abhanden gekommen.

Im Frühjahr 1941 verkündete Radio Bagdad den sechsten Putsch. Das neue Kabinett bestand hauptsächlich aus Nazianhängern. Italien und Deutschland unterstützten die neue Regierung. Konflikte mit England eskalierten zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Irakische und britische Flugzeuge lieferten sich Luftschlachten über der Hauptstadt. Einen Monat später, als nur noch britische Flugzeuge den Himmel beherrschten, stürzte die irakische Regierung.

Während der zwei gesetzlosen Tage, die darauf folgten, brach ein Pogrom gegen die Juden los.
Plünderung, Vergewaltigung, Verwüstung und Mord sind die universelle Sprache der Pogrome. Wegen ihres dürftigen Vokabulars beschränkt sie sich nicht auf Uniformen, Alter oder Geschlecht. Die jüdischen Viertel von Bagdad wurden von irakischen Soldaten, von Stammesangehörigen und Städtern, von wütenden Männern, Frauen und Kindern angegriffen. Innerhalb von zwei Tagen hatten sie Hunderte von Juden ermordet und Tausende verwundet.

Ustad Heskel und seiner Familie geschah nichts. In ihrem gemischten Viertel war es nicht zu Feindseligkeiten gekommen. Im Gegenteil, moslemische Familien hatten ihnen Zuflucht angeboten. Und die britische Armee war schließlich doch nicht so weit weg gewesen, wie sich herausstellte. Sie stand vor den Außenbezirken der Stadt und hatte Befehl, sich nicht einzumischen.

Auch ustad Heskel begriff schließlich, daß die Briten keinen Finger rühren würden, wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse war. Aber daß die Straßen durch die Anwesenheit britischer Truppen sicherer waren, diese Tatsache konnte niemand leugnen. Und auf den Straßen blieb es sicher bis zum Ende des Krieges, solange die Truppen der Alliierten in Bagdad stationiert waren, auf ihrem Weg von und nach Nordafrika.

Während also Europäer für Nahrungsmittel und europäische Juden vor den Gaskammern Schlange standen, blühten die Geschäfte in Bagdad, und ustad Heskel machte, wie viele tausend andere Kaufleute, ein Vermögen.
In der Zwischenzeit waren seine Kinder herangewachsen, hatten eigene Vorstellungen, die tief geprägt waren von der farhud, dem Pogrom. Wenn es ein paar Tage länger gedauert hätte, wären auch die gemischten Viertel nicht verschont geblieben, das wußten sie. Sie warfen ihrem Vater vor, Pogrome als einen unvermeidlichen Teil des Lebens hinzunehmen. Sie behaupteten, er habe die Seele eines dhimmi, der unsichtbar wurde, sobald ein Moslem Schaum vor dem Mund bekam. Je harscher sie ihn kritisierten, desto weltkluger fanden sie sich. Als Junge hatte er seinem Vater das Herz gebrochen, weil er sein Leben nicht dem Torastudium widmen wollte. Aber hatte er den alten Mann in völlige Verzweiflung gestürzt, nur um sich frei zu fühlen und seinen eigenen Weg gehen zu können? Ustad Heskel konnte sich nicht erinnern.

Die Hälfte seiner Kinder schloß sich der Tnuah an, der zionistischen Untergrundbewegung, wo sie schießen lernten, um die Gemeinde, wenn nötig, zu verteidigen, und außerdem modernes Hebräisch – als Vorbereitung auf Eretz Israel. Die andere Hälfte identifizierte sich mit den unterdrückten Massen im Irak und fand ihre Antwort im Kommunismus. Zwei Ideologien unter einem Dach, zwei Revolutionen am Eßtisch – welche Zusammenstöße ustad Heskel ertragen mußte. Wie uneinsichtig und selbstgerecht sie klangen, selbst die Mädchen – er konnte für keinen Partei ergreifen. Sich in die Politik einzumischen würde zur Katastrophe führen, nicht nur für sie selbst, sondern für die ganze Gemeinde.

Seine Worte wurden genausowenig beachtet wie das Gebrabbel der Radiosender, wenn man auf der Suche nach den neuesten Nachrichten war.
Ohne vorher krank gewesen zu sein, starb eines Nachts seine Frau und ließ ustad Heskel mit einem halben Dutzend Kinder zurück, die ihm jeden Tag fremder wurden. Die Einsamkeit lernte er allmählich zu ertragen, aber sein Leben hatte keinen Sinn mehr. Warum hatte er Gott den Rücken gekehrt, fragte er sich immer wieder.
1948 wurde der Staat Israel gegründet. Mullahs riefen in den Moscheen von Bagdad zum Jihad auf, Studenten streikten, und die Demonstranten drängten die Regierung, zu den Waffen zu greifen. Der Irak folgte der Entscheidung der Arabischen Liga und schickte seine reguläre Armee an die Front.

Im ganzen Land wurde das Kriegsrecht ausgerufen. Tausende von Kommunisten, Zionisten und Juden wurden verhaftet und in ein besonderes Lager in der südlichen Wüste gebracht. Shafik Adas, ein wohlhabender Geschäftsmann, der mit einem Minister zu Mittag speiste und mit dem Regenten dinierte, der reichste Jude des Irak, wie es hieß, wurde gleichzeitig wegen Kommunismus und Zionismus angeklagt. Obwohl das Militärgericht keine Beweise für seinen Waffenhandel mit den Zionisten in Palästina vorlegen konnte, wurde Adas zum Tode verurteilt. Er wurde vor seiner Villa in Basra öffentlich erhängt. Eine große Menschenmenge versammelte sich, um das Schauspiel mitzuerleben, und ihre Jubelschreie brachten den Henker dazu, Adas noch mal aufzuhängen. Am nächsten Tag waren die Titelseiten der irakischen Zeitungen voll mit Nahaufnahmen des Gehängten. Sein Genick war gebrochen, seine Leiche baumelte über einer Pfütze seiner Exkremente. Er wurde die Schlange, der Verräter, der Spion, der Zionist, der Jude genannt, und das Verteidigungsministerium beschlagnahmte sein Millionenvermögen.

Aber der Fall Adas brachte keinen arabischen Émile Zola hervor.
Und die Verhaftungen hörten nicht auf. Alle Regierungsstellen entließen ihre jüdischen Beamten und Angestellten. Das Handelsministerium verlängerte die Konzessionen jüdischer Kaufleute nicht mehr. Das Verteidigungsministerium verbot jüdischen Bankiers alle Transaktionen mit ausländischen Banken. Das Gesundheitsministerium gab jungen jüdischen Ärzten keine Zulassungen. Das Erziehungsministerium reduzierte die Quote jüdischer Studenten. In der offiziellen Sprache wurden Zionist und Jude zum Synonym. Auf der Straße nahmen die Feindseligkeiten gegen Juden zu. Eine Synagoge wurde von Demonstranten geschändet. Nurial-Said, der Ministerpräsident, bezeichnete die Juden der arabischen Welt als Geiseln. Die illegale Auswanderung junger Juden, die keine Geiseln arabischer Launen sein wollten, nahm zu.

Und ustad Heskel mußte damit fertig werden, einen Sohn im Gefängnis zu haben und zwei minderjährige Töchter jenseits der Grenze; gleichzeitig lief seine Geschäftskonzession aus.
Weil sie die illegale Auswanderung nicht kontrollieren konnte, erließ die Regierung 1950 schließlich ein taskit, ein Denaturalisierungsgesetz. Es erlaubte den Juden, nach Israel auszuwandern, vorausgesetzt, sie gaben ihre irakische Staatsbürgerschaft auf.

In den ersten Wochen wagte kaum jemand, das Angebot ernstzunehmen. Die Spannungen würden sich bald legen, sagten sie, und das Leben in Bagdad würde wieder seinen normalen Gang gehen. Wer, von ein paar unbesonnenen Jugendlichen abgesehen, war denn überhaupt zur Auswanderung bereit? Konnten aus Kaufleuten der Mittelschicht wirklich Bauern werden? Wer war schon wild darauf, daß seine Söhne zum Militär eingezogen wurden, und wer konnte sagen, ob der neue Staat das nächste Jahr überleben würde?

Sie waren die babylonischen Juden, das vergaßen sie nicht. Sie waren das Erste Exil, das Gott in das Heimatland Abrahams zurückgeschickt hatte. Sie hatten die letzten zweitausendfünfhundert Jahre in Mesopotamien gelebt, einhundert Generationen lang, tausend Jahre, bevor es den Arabern eingefallen war, ins Land einzudringen. Hier hatten sie die erste Synagoge errichtet. In den Akademien auf der anderen Flußseite war der Talmud zusammengestellt worden. Waren diese Beiträge nichts wert? Verlangte ihre Geschichte von ihnen nicht Kontinuität?

Konnte es sein, daß alle Freunde von ustad Heskel Eretz Israel gleichgültig gegenüberstanden? Israel, wiederholte er, was für ein sonorer Klang! Es hatte sich hartnäckig über die Jahrhunderte gehalten, ein heiliges Versprechen war nun greifbare Realität. Ein Stück Land und eine Flagge, ein im Wind flatterndes Stück Stoff, verteidigt von einer Reihe Panzer.
Dort schlössen am Samstag alle Geschäfte ohne Ausnahme, hieß es, weil der Samstag der offizielle Ruhetag ist. Dort schrieben die Hausfrauen ihre Einkaufslisten in der heiligen Sprache. Dort würde er Formulare ausfüllen, Schecks unterschreiben, ein Taxi rufen, sich die Haare schneiden lassen, Zeitung lesen, Pferdewetten abschließen, etwas zu trinken bestellen … alles auf hebräisch. Und jeder Satz würde wie ein Gebet klingen.
Er konnte nicht anders, Israel machte ihn sentimental.

Es hieß, daß dort selbst die Polizisten Juden waren. Nein, er wäre nicht mit Tolerierung zufrieden, in einem jüdischen Staat würde er dazugehören, wäre ein rechtmäßiger Bürger. Seine Rechte würden ihm nicht als Gunst zugestanden, sie wären selbstverständlich. Er wäre niemandes Jude mehr. Nach zweitausendfünfhundert Jahren wurde ustad Heskel die Möglichkeit geboten, sich ein für allemal von der Furcht zu trennen.

Ist Heimat nur der Ort, wo man sicher schlafen kann?
Die unbesonnenen Jugendlichen bewarben sich voller Begeisterung. Sie nahmen ihre Freunde mit, die ihre Geschwister mitschleppten, ihre Eltern erpreßten, ihre Verwandten überzeugten, der Großmutter keine Chance ließen, ihre Nachbarn mit ihrer Entschlossenheit schockierten. Die Kettenreaktion überstieg alle Erwartungen. Und dann explodierte eine Bombe in einem von Juden besuchten Cafe, später eine in einer Synagoge, eine Warnung an die andere Hälfte der Gemeinde, die sich noch nicht entschließen konnte, wegzugehen.
Es ging das Gerücht, die zionistische Untergrundbewegung habe bei den Bombenanschlägen die Hand im Spiel gehabt. Die Zionisten schoben ihrerseits den arabischen Nationalisten die Schuld zu. Aber ob nun von Juden oder Arabern gebastelt, die Bomben waren ein Wendepunkt in der Einstellung zur Emigration. Von dem Tag an wurde die Abreise selbstverständlich, das Bleiben dagegen wurde zur Entscheidung und erforderte eine Reihe von Rechtfertigungen.

Innerhalb eines Jahres gaben über 100 000 Juden ihren irakischen Personalausweis ab und bereiteten sich auf den Umzug vor oder den Exodus, wie sie es lieber nannten. Unter ihnen waren auch ustad Heskels Kinder, Zionisten und Kommunisten, manche eifrig, andere zögernd. Seine alten Eltern packten ebenfalls ihre Sachen, besessen von der Idee, im Heiligen Land begraben zu werden. Als ob die Würmer auch heilig geworden wären.
Ustad Heskel sah sich gefangen zwischen der Frömmigkeit seiner Eltern und dem Pioniergeist der Jugend. Er fühlte sich weder alt genug, um seinen Tod zu feiern, noch jung genug, um auf die Versprechungen der Zukunft zu vertrauen. Sorgsam studierte er die Briefe seiner Töchter aus Israel, bis er zu einer eigenen Entscheidung kam. Seine Kinder mochten ja Pioniere sein — er würde im neuen Land nur als Flüchtling enden.

1951, an dem Tag, als der taskit auslief, erließ die irakische Regierung ein neues Gesetz, das den Besitz aller Juden einfror, die sich für die Emigration angemeldet hatten. Wer zuletzt lacht, lacht am besten — was mußte das Parlament für eine fröhliche Sitzung gehabt haben. Die zionistischen Bastarde, die damit prahlten, die Wüste zu begrünen und die Sümpfe trockenzulegen, waren nun aufgefordert, ein weiteres Wunder zu vollbringen und den Ansturm von 100 000 besitzlosen Neuankömmlingen zu überleben.

Ustad Heskel sah ein Flugzeug nach dem anderen starten, mit seinen Kindern, seinen Eltern, seinen Verwandten, seinen Freunden, seinen Geschäftspartnern, den Geschäftsrivalen, seinen Kunden, seinem Arzt, seinem Rechtsanwalt, seinem Barbier, seinem Fleischer, seinem Bäcker, seinem Bankier, seinem Bettler, seinem Schneider, seinem Schuhmacher, seinem Hausmädchen, seiner Köchin, seinem Lieblingsdichter und den Musikern, die er nun nie mehr auf einem Fest würde spielen hören. Nur ein Jahr zuvor war jeder sechste Bagdadi Jude gewesen. Jetzt flogen die Juden davon, jeder mit 50 Dinar in der Tasche und einer losgerissenen Wurzel, die in der Wüste wieder eingepflanzt werden mußte.

Schulen, Synagogen, Souks, Geschäfte, Banken, Clubs und ganze Viertel leerten sich, eines nach dem anderen. Aber Bagdad verschwendete keine Zeit damit, um die Juden zu trauern. Geschäfte und Handel waren endlich für die Übernahme durch moslemische Kaufleute bereit. Einige der leerstehenden Häuser wurden an palästinensische Flüchtlinge verteilt. Der Rest, der eingefrorene Besitz an Bargeld und Immobilien, fiel an den Staat. Ustad Heskel ging auf und ab in seinem Haus, das vollgestopft war mit Bettwäsche, Porzellanbergen, Bücherstapeln, Kleiderbündeln und was seine Kinder sonst noch zurückgelassen hatten. Er entdeckte eine Perlenkette in einem Korb, zwischen zwei Wollknäueln. Sein Geschenk an seine älteste Tochter zum achtzehnten Geburtstag. Hätte sie die nicht in ihrem Schuhabsatz verstecken können, so wie Geldscheine hinausgeschmuggelt wurden! Er befingerte die Perlen, als wäre es eine moslemische Gebetskette. Dabei fiel sein Blick auf die Bibel, die er vor fünfzig Jahren beiseite gelegt hatte. Als ustad Heskel zu lesen begann, erinnerte er sich. Und als er sich erinnerte, fand er die historischen Wurzeln, die zwischen den Seiten bewahrt worden waren wie die getrockneten Flügel toter Schmetterlinge.

Er las monatelang, jahrelang vielleicht, bis er voller Gedanken und Fragen war, die er mit Menschen seiner Art teilen wollte. Ustad Heskel ging los und suchte nach den Überbleibseln jüdischen Lebens in Bagdad.
Es gab nur noch ein paar tausend Juden, die in gemischten Vierteln lebten. Ihre Verletzlichkeit als jüdische Minorität in einem arabischen Land führte dazu, daß sie sich von der Politik und jeder Art Ideologie fernhielten. Als Konsequenz, oder vielleicht auch nur aus Faulheit, vernachlässigten sie alle überkommenen Werte. Ihre jüdische Tradition war zu locker, um sie zu stützen, ihr arabisches Erbe nur allzu bereit, sie im Stich zu lassen. Es waren Menschen, die aus Ort und Zeit gefallen waren. Angesichts der kulturellen Leere wandten sie sich der Modernität zu, ähnlich wie ihre moslemischen und christlichen Landsleute. Und ähnlich wie diese nutzten sie nur die Hülle.

Sie sagten sorry, merci, please, vraiment, mit starkem arabischen Akzent. Manche gaben ihren Kindern europäische Namen: Linda, Edward, Ramsey, Vera, distanzierten sie von Anfang an von ihrer Umgebung und bereiteten sie so auf eine Zukunft im Ausland vor. Sie widmeten ihr Leben der Arbeit, der Familie und dem Poker — ihrer wichtigsten Freizeitbeschäftigung, ihrer Sucht und einzigen Kultur. Sie spielten in Clubs oder zu Hause, Männer wie Frauen — modern genug, sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu sitzen. Fein angezogen saßen sie am Kartentisch, betonten ohne Ende ihre aristokratische Herkunft, die bedeutenden Posten, die ihre Väter in Bagdad vor dem taskit gehabt hatten, und wie phantastisch sich ihre Kinder in der Schule machten. Zwischen den Spielen flirteten sie miteinander und tratschten über die Eheprobleme der Spieler an den anderen Tischen. Obwohl sie ihre fetten Jahre voll genossen, war ihnen durchaus bewußt, was für ein Fehler ihre Entscheidung für Bagdad gewesen war. Sie hatten auf die falsche Karte gesetzt, gestanden sie einander hin und wieder. Ihr Bluff war vom Schicksal, der Zeit oder einfach von der Geschichte aufgedeckt worden — sie konnten ihre Widersacher nicht mal benennen. Und trotz der relativen Sicherheit, die sie genossen, waren sie stets wachsam, warnten sich gegenseitig davor, zu lange zu bleiben und ihren gesamten Einsatz zu verlieren.
Aber welcher Spieler verläßt rechtzeitig den Spieltisch?

Ustad Heskel fand ihr Leben zu oberflächlich, ihre Gesellschaft unerträglich. Entschlossen, den Segen der Bibel mit anderen zu teilen, wandte er sich an die jüdische Schule. Ja, sie würden ihn gerne für ein paar Stunden pro Woche einstellen. Was, er hatte vergessen, daß das Erziehungsministerium schon vor Jahren den Religionsunterricht an jüdischen Schulen eingeschränkt hatte? Nein, völlig unmöglich — die Bibel auf hebräisch zu lesen war verboten. Die Schüler lasen nur aus Gebetbüchern, ohne Übersetzung oder Interpretation. Ja, Religion mußte sie zu Tode langweilen.

Aber wenn er das Gebetbuch schloß und ihnen biblische Geschichten erzählte, spitzten sie die Ohren, als sei er unmittelbarer Zeuge von Samsons außerordentlicher Kraft, den prophetischen Träumen Josefs, der Durchquerung des Roten Meeres, dem Wunder des Lichts gewesen. Manchmal schweifte er ab, zu Geschichten über berühmte Juden wie Einstein, der kurz vor seinem Tod gesagt hatte, daß er an die Existenz Gottes glaubte. Die Mischung aus Mitgefühl und Respekt, die er in ihren Augen sah, verriet ihm, wie antiquiert er wirken mußte, wie alt er geworden war. Die verwöhnten Gören. Trotzdem gefiel es ihm, daß sie ihn so selbstverständlich ustad nannten, als sei er als Lehrer geboren worden.

Obwohl Vater das Glücksspiel strikt ablehnt, macht er für Purim eine Ausnahme. Wie jedes Jahr hat er uns von der Bank neue, glänzende Münzen geholt, die wir an den beiden Festtagen verspielen dürfen. Wie jedes Jahr baut er zwei Münzentürme auf seinem Schreibtisch auf. Zwei Türme zu je zehn silbrigen Dirham. Nur ein Dinar? Ein Dinar war letztes Jahr mein Purimgeschenk, aber jetzt bin ich zwölf Jahre alt, und Vater hat mir eine Erhöhung versprochen. Hat er das vergessen? Mit verstohlenen Blicken verfolge ich, wie er die Hand in die Tasche steckt. Kleingeld! Er hat mir noch kein Kleingeld gegeben. Ich fummele an den Dirhamtürmen herum, will mir nichts anmerken lassen, während Vater ahnungslos tut, weitere Rollen aufreißt und noch fünf schimmernde Türme mit welligen Rändern aufbaut — je zehn Münzen ä zehn Fils. Insgesamt anderthalb Dinar!
Ich schlinge Vater die Arme um den Hals und drücke ihn so fest ich kann, länger als letztes Jahr. Dann werfen wir die Münzen in einen grünen Filzbeutel, den Mutter für mich genäht hat, extra für Purim.

Selma veranstaltet dieses Jahr die Kartenspielparty, und sie redet seit Wochen über nichts anderes. Als ihre Mutter mir die Tür öffnet, rieche ich sambusak-Gebäck und höre das Klimpern eines Geldspielautomaten. Pfiffe und Gelächter dringen aus dem Salon. So viele Attraktionen, und alle auf einmal! Hastig ziehe ich meine Jacke aus und schaue in das kleine Zimmer neben dem Eingang. Selmas Vater fuhrt den einarmigen Banditen vor, den er für diesen Anlaß gemietet hat. Fasziniert von den rotierenden Bildern, starren die Kinder gebannt darauf, um den Moment nicht zu verpassen, wenn die fünf Zitronen auftauchen oder die fünf Kirschen oder die fünf Bananen.

Die Chance, vier oder fünf gleiche Bilder zu bekommen, ist äußerst gering, hat mir Vater gestern erklärt. Aber die Kinder sagen, seit einer Weile sind keine fünf gleichen mehr aufgetaucht und werden jetzt bestimmt jeden Augenblick kommen. Vater hätte dem sofort widersprochen, »weil die Maschine kein Gedächtnis hat« und weil bei jeder Runde die Chance, fünf gleiche zu bekommen, genauso gering ist wie vorher. Und ich sage, die fünf Kirschen haben den ganzen Morgen auf mich gewartet.

Ich werfe meine ersten zehn Fils ein, drehe den Metallknopf, höre die Münze fallen und setze die Maschine in Bewegung. Langsam kommen die Bilder in den kleinen Fenstern zum Stillstand. Ananas und Zitronen und Eistüten und Trauben tauchen auf, aber warum alle zusammen, verdammt noch mal! In kürzester Zeit schluckt die Maschine vier Münzen, fünf, sechs, spuckt zwei wieder aus, nur um sie bei der nächsten Runde zurückzugewinnen. Allzu schnell sind meine zehn Runden um, und ich habe wie viele Münzen verloren? Die kurze Aufregung hat meinen Appetit nur noch größer gemacht. Ich bettele um eine weitere Chance, will nur mein Geld zurück, aber die Mädchen in der Schlange geben nicht nach. Widerstrebend lasse ich den Hebel los und gehe hinüber in den Salon.

Das geräumige Zimmer ist in eine Spielhölle verwandelt worden, wie an Samstagabenden, nehme ich an, aber an diesem Morgen sind die Spieler fein angezogene elf- und zwölfjährige Schulkinder. Sie sitzen an kleinen rechteckigen Tischen überall im Raum verteilt oder stehen an den beiden runden Tischen in der Mitte, einer für Roulett, der andere für dossa, ein Kartenspiel. Ich winke Selma zu, die am Roulettrad steht, aber sie ist zu sehr in das Spiel vertieft und bemerkt mich nicht.

Vertrautes Gelächter lenkt meine Aufmerksamkeit auf vier Spieler in einer Ecke. Dudi und ein paar andere spielen Lügenwürfel. Obwohl Dudi nicht mehr in unsere Klasse geht, wird er nach wie vor zu unseren Partys eingeladen. Ich gehe auf den Tisch zu. Dudi sagt ein Full house an, verdeckt aber die Würfel mit den Händen und macht ein aufrichtiges Gesicht. Dora schaut ihn durch ihre dicke Brille mißtrauisch an. Ihre schmalen blauen Augen sind noch schmäler geworden, wie zwei Würmer. Dudi errötet schließlich, beißt sich auf die Lippe, als wolle er ein Lächeln unterdrücken. Doras Gesicht erhellt sich. Lügner! schreit sie, wie ein Richter bei einem Revolutionstribunal. Dudi nimmt langsam die Hände weg und zeigt seine Würfel: drei Vieren und zwei Zweien.
Ich schnappe mir ein Käsesambusak vom Büfett am Fenster und gehe zu Selma, um ihr zu der besten Purimparty zu gratulieren, die ich seit Jahren gesehen habe.
– Genau wie in Las Vegas, nicht? fragt sie.
– Wie was?
Vergiß es, sagt sie und zeigt mir den Berg Münzen, der vor ihr liegt. Sie behauptet, die Roulettkugel sei ihr den ganzen Morgen von Rot zu Schwarz und umgekehrt gefolgt. Kaum hat sie das gesagt, verliert sie ihren Einsatz auf Rot. Sie beharrt auf Rot und verliert ein paar Runden lang. Sie läßt Rot sausen, setzt auf Gerade und gewinnt. Sie gewinnt ein zweites Mal. Sie wechselt zu Ungerade, verliert, wechselt zu Gerade und verliert wieder. Jetzt ist es Selma, die hoffnungslos hinter der Kugel herjagt. Bald verliert sie das bißchen Geduld, das sie besitzt, packt alle Münzen, die vor ihr liegen, und setzt auf Rot. Das Minirad dreht sich. Rot und Schwarz vermischen sich zu einem dunklen Ring. Die Kugel wirbelt und klappert und vervielfacht sich, bis mir fast schwindelig wird. Braun wird wieder zu schwarzen und roten Abteilungen. Die Kugel wird langsamer, hüpft von Kästchen zu Kästchen und fällt schließlich in ein rotes, zittert noch leicht, liegt dann still. Selmas Einsatz wird verdoppelt. Sie will alles auf Schwarz setzen. Nimm dein Geld und verlaß sofort den Roulettisch, sonst verlierst du alles, rate ich ihr und ziehe sie am Arm. Der letzte Rest gebackenen Käses ist auf meiner Zunge geschmolzen. Ich habe Lust auf Kartenspielen, auf die bunten Augen und Bilder. Selma sammelt ihre Münzen ein, rührt sich aber nicht von der Stelle. Das Rad wird langsamer. Die Kugel hüpft in ein rotes Kästchen. Selma steckt die Handvoll Münzen in ihren Beutel und folgt mir zum Kartentisch. Erst da bemerke ich, daß Laila der Wolf die Bank hält.

Ich habe einen Moment gebraucht, um sie zu erkennen. Laila hat sich das Gesicht gepudert, die Augen mit braunem Kajalstift umrandet und die Lippen radieschenrot geschminkt. Was macht sie überhaupt auf Selmas Party? Die beiden kriegen sich wegen jeder Kleinigkeit in die Haare und lassen keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig zu ärgern. Letzte Woche hatten sie Streit darüber, wer Klassensprecherin werden soll. Sie müssen der Lehrerin soviel voneinander erzählt haben, daß die am Ende beide bestraft hat. Sie mußten hundertmal schreiben: »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«.

Selma und ich quetschen uns zwischen die anderen Kinder und bauen uns vor Laila auf, die die Karten auf dem Tisch zusammenschiebt. Sie nimmt uns mit hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis, mischt und beginnt auszuteilen. Die Karten werden verdeckt ausgelegt, eine pro Spieler und eine für die Bank. Laila legt zwei Reihen zu je fünf Karten in die Mitte des Tisches und zwei direkt vor unsere Nase. Selma ignoriert den Wink, streckt die Hand aus und setzt 10 Fils auf eine Karte in der Mitte. Ich mache dasselbe. Nachdem sich jeder Spieler für eine Karte entschieden hat, zieht Laila die übriggebliebene zu sich heran. Sie dreht sie um und grinst.
Die Kreuz-Zehn. Die Spieler stöhnen und murren. Wenn die eigene Karte niedriger als eine Zehn ist, muß man der Bank den doppelten Einsatz zahlen. Die meisten Bankhalter erlauben den Spielern, ihre Karten selbst umzudrehen. Laila ist da anders. Sie läßt niemanden irgend etwas anrühren — als wäre sie hier zu Hause. Meine zwei glänzenden Münzen verschwinden in ihrem Berg von einer Bank. Selmas Karte wird als letzte aufgedeckt. Das Kreuz-As, das einzige As in der Runde, verdirbt Lailas Spaß.

Das As verdreifacht den Einsatz. Laila schnippt Selma drei Münzen zu, als würde sie ihr einen Gefallen tun.
— Wieso hast du die überhaupt eingeladen? flüstere ich Selma ins Ohr.
— Weil Mama gesagt hat, ich müßte. Nur weil sie immer mit Lailas Mutter am selben Pokertisch spielt …
Laila mischt die Karten, länger als zuvor. Wieder legt sie zwölf Karten aus, zehn in der Mitte und zwei unter unsere Nasen. Wieder ignorieren wir ihren Wink. Selma wählt die Karte, die dicht vor Laila liegt, und zieht sie quer über den Tisch zu sich. Laila wirft ihr einen so bösen Blick zu, daß ich verstehe, wieso Gangster in Filmen Tische umwerfen und sich wegen eines Kartenspiels gegenseitig erschießen. Laila dreht ihre Karte um. Die Spieler bejubeln ihre Karo-Sieben. Sie zahlt einem nach dem anderen die Gewinne für die höheren Karten aus und sammelt die Einsätze der niedrigeren ein. Ich bekomme eine matte Zehn-Fils-Münze für meinen Kreuzbuben. Selmas Karte wird als letzte umgedreht. Wieder ein As! Das Pik-As.

Selma bekommt weitere dreißig Fils. Ich frage mich im stillen, wieviel ihrer Begeisterung daran liegt, daß sie Laila ärgern kann, und wieviel das Gewinnen selbst ausmacht. Laila macht ein Pokergesicht und mischt die Karten. Aber ihre Hände zittern, während sie die scharfen Kanten ineinanderschnellen läßt. Endlich wird der Stapel geteilt. Laila legt drei Reihen von jeweils vier Karten in der Mitte aus. Selma plaziert ihre zehn Fils auf irgendeine Karte. Laila dreht ihre Karte um und räuspert sich, hält ihr Kreuz-As hoch. Diesmal schießt ihre Hand als erstes zu Selmas Karte.
Das Karo-As trifft Laila völlig unvorbereitet. Ein Spieler pfeift bewundernd.
– Heh, Selma, du kriegst heute wohl nur Asse, sagt ein anderer.
Laila errötet, ihr Gesicht so rot wie das Karo. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, in drei aufeinanderfolgenden Runden ein As zu bekommen? versuche ich auszurechnen, während sich Laila und Selma anstarren. Ihre Fäuste liegen auf dem Tisch. Alle sind verstummt, so wie vor vier Jahren, als Laila, eine goldene Krone auf dem Kopf, ihre acht Kerzen ausblasen wollte und Selma »Happy Birthday, liebe Laila der Wolf« sang.
Ich weiß nicht, was diesmal passiert wäre, wenn Selmas Mutter sie nicht in diesem Moment gerufen und gebeten hätte, Gläser aus der Küche zu holen.

– Heute kein Glück? fragt Dudi, legt mir den Arm um die Schultern. Komm, ich will dir was zeigen.
Erschreckt über sein plötzliches Auftauchen, schiebe ich seinen Arm weg. Wie lange hat er mir schon über die Schulter geschaut? Ich lasse mich von ihm zum Büfett ziehen, um die unbegrenzten Fähigkeiten seiner Nase zu bezeugen. Wie gebeten, verbinde ich ihm die Augen mit einer Serviette. Die Hände hinter dem Rücken, beugt er sich zum Büfett vor, während ich ihn am Jackenkragen halte und seine Nase von Gericht zu Gericht führe, sie beinahe hineintunke.

– Kreuzkümmel! Ich rieche Kreuzkümmel, und er steigt von gekochten Kichererbsen auf … also müssen das gebratene sambusaks sein, stimmt’s? Siehst du! Das nächste ist kein Problem, das sind Käsesambusaks. Der Geruch von gebackenem Teig mit einem Hauch Anis und Kümmel erfüllt das ganze Haus. Selmas Eltern sind nicht sehr gläubig, oder? Okay, dann kommt der Pimentgeruch bestimmt von Reisbällchen, gelben Reisbällchen, um genau zu sein – gefüllt mit Fleisch. Ja, ich weiß, daß Kurkuma keinen Geruch hat, aber Reisbällchen sind immer gelb, stimmt’s? Ich hab die kubba vergessen! Das ist eine Schande. Ich versuch’s noch mal. Nein, es hat keinen Sinn, machen wir weiter. Na, und was haben wir hier? Amba, Mangochutney und Limonenchutney und persischen Knoblauch und als Krone des Ganzen mechallelah, in Salzlake eingelegte rote Rüben. Bei mechallelah kann ich sogar das Rot riechen, glaub mir. Nein, im Ernst, manchmal kann ich Farben riechen. Das kann ich beweisen. Was, ich habe die burek-Röllchen ausgelassen? Halt an! Diese Schärfe kommt bestimmt von Tamarinden, aber verdammt, was ist es noch? Jaaa, ein Hauch Zimt und auch ein Spritzer Zitronensaft. Nein, sag nichts, es liegt mir auf der Zunge … das sind dolma, gefüllte Weinblätter, stimmt’s? Gott, meine Nase wird jeden Tag besser. Blödsinn, Lina, deine Andeutungen waren minimal. Oh, jetzt sind wir in einer anderen Welt gelandet, das ist der Geruch des Paradieses nach dem Regen. Okay, ich sag’s genauer, das ist Rosenwasser, aber den Rest mußt du mir sagen. Zingula-Spiralen? Gute Güte, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Du weißt, daß ich Süßigkeiten nicht widerstehen kann. So, wo wir jetzt beim Gebäck sind, laß mich ein letztes Mal raten. Meine Nase muß direkt über malfouf sein, Löffelbiskuits gefüllt mit gemahlenen Mandeln, stimmt’s?
Falsch! sagt Selma und drückt Dudis Kopf runter.

Seine Nase versinkt in den manal-samaks, weichen Nugatküchlein in Mehl. Selma und ich lachen, bis uns die Tränen kommen; Dudi niest in das Gebäck, und das Mehl stäubt über den ganzen Tisch. Er reißt sich die Serviette von den Augen, niest noch mal, rennt ins Badezimmer, verflucht uns und wischt sich den weißen Staub vom Gesicht.
Selma und ich laden uns die Teller mit kleinen Happen von allem voll.
– Das Büfett ist vorzüglich, Selma. Köstlich.
– Das solltest du Mama sagen. Sie hat drei Tagen lang daran gearbeitet.
Dampf strömt aus ihrem Mund, als sie in eine kubba beißt.
– Mama sagt, ich muß mich als Gastgeberin um all meine Gäste kümmern, aber ich kann es kaum erwarten, wieder am dossa-Tisch zu sitzen. Es war doch nicht richtig, das Herz-As zu versetzen, oder?
– Selma, du wirst es nicht bekommen, und wenn du bis morgen früh spielst.
Ich wiederhole, was ich von Vaters Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung behalten habe. Auch Selma weiß, daß die Chance, ein As, irgendeins, aus einem Packen von 52 Spielkarten zu bekommen, 52 geteilt durch 4 ist, also l zu 13. Sie muß eine Weile kauen und die Finger lecken, bevor sie die sich daraus ableitende Tatsache akzeptiert, daß die Chance, ein As, irgendeins, in zwei aufeinanderfolgenden Runden zu bekommen, 1:13×13, und in drei aufeinanderfolgenden Runden 1:13x13x13 ist, und das muß weniger als eins zu tausend sein!
Aber sie hat nicht nur Asse bekommen, Selma hat in jeder Runde ein anderes gezogen, eine noch viel unwahrscheinlichere Kombination. Wie viel? Dazu brauche ich Papier und Bleistift; die Chance muß l zu 4/52×3/52×2/52 sein, eins zu Tausenden, nehme ich an. Die Zahlen beeindrucken sie wenig. Selma zerteilt eine getrocknete Dattel der Länge nach, ersetzt den Kern durch eine Walnuß und beißt das winzige Sandwich in der Mitte durch. Ob sie wohl kapiert hat, was ich meine? Sie betrachtet den Rest der Dattel in ihrer Hand und schaut die Füllung an, als hätte sie sie nicht selbst vor einem Moment hineingetan.
– Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen, wenn das Ergebnis doch nur rein zufällig ist? fragt Selma schließlich. Und wenn der Zufall mir nacheinander drei Asse zugespielt hat, glaubst du wirklich, daß deine Berechnungen das vierte aufhalten werden?
– Es ist eine Chance von eins zu 4/52×3/52×2/52×1/52! Das ist so gut wie unmöglich, verstehst du nicht?
Unbeeindruckt stellt sie den leeren Teller auf das Büfett und geht zurück zum Kartentisch. Laila ist plötzlich die Freundlichkeit in Person. Sie reicht Selma die Karten und erklärt höflich, daß sie dem Anblick und dem Geruch des phantastischen Büfetts nicht länger widerstehen kann. Selma winkt mich fröhlich heran, reibt sich die Hände, begierig darauf, die Bank zu halten. Ich gehe zu ihr, verwundert über Lailas plötzlichen Rückzug und noch mehr über ihre ungewöhnliche Freundlichkeit. Selma zieht ihren Pullover aus, leert ihren Geldbeutel auf den Tisch und mischt die Karten.
Sie hat geschwitzt, sagt mir meine Nase. Aber der Geruch ist scharf, wie gegorener Schweiß, ein Geruch, den Selmas Poren noch nie von sich gegeben haben.
Sie ist in letzter Zeit so groß geworden, bestimmt größer als ihre Mutter. Ihr Hintern rundet sich, zerreißt fast ihren Rock, wie aufgegangene Hefe. Ihre Schultern sind breiter geworden und ihre Brüste angeschwollen; sie wippen, wenn Selma Karten austeilt oder sie einsammelt. Ich wette, daß sie bald einen BH trägt.
Und ich wage zu behaupten, daß sie bereits ihre Tage kriegt.
Ihr Bankstapel wird bald zu einem Hügel, nicht ohne die Unterstützung meiner schimmernden Münzen. Trotzdem ist bisher weder das Herz-As noch sonst ein As in einem Blatt aufgetaucht.
Selma hört plötzlich auf zu mischen und breitet das Kartenspiel auf dem Tisch aus, die Karten aufgedeckt.
— Irgendein verdammtes Miststück hat die Asse aus dem Spiel genommen! schnaubt sie.
— Ein Miststück namens Wolf? kichere ich.
— Lailaaaaaaaaaaaaaa …
Selma rennt los, um sich ihre Asse wiederzuholen. Ein merkwürdiger, ein bißchen fischiger Geruch bleibt mir in der Nase. Dudis krampfartiges Lachen dröhnt aus der Lügenwürfel-Ecke herüber. Lailas geschminktes Gesicht verzieht sich vor Wut. Mein Magen kneift, ich ahne das Ende unserer Kindheit.

Mona Yahia:
Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom
Eichborn-Verlag Frankfurt 2002, 432 Seiten
Übersetzung: Susanne Aeckerle
(When the Grey Beetles Took Over Baghdad)