Der Briefkasten Gottes

Von Rabbi Marc Gellman

Der geschickteste Handwerker und Künstler in der ganzen Bibel war ein Mann namens Bezalel. Wenn man jemanden brauchte, um irgendetwas herzustellen, wandten sich die Verantwortlichen immer an Bezalel und beauftragten ihn, es zu machen. Sogar Gott beauftragte Bezalel mit allen wichtigen Dingen, die Gott gemacht haben wollte. Bezalel fertigte einen wunderbaren siebenarmigen Leuchter aus Gold für den Tempel in Jerusalem. Jeder der sieben Kelche für das Öl und den Docht war wie eine Mandelblüte geformt, und wenn die Dochte angezündet waren, sahen sie wie kleine Glühwürmchen aus, die in sieben goldenen Blüten leuchteten.

Bezalels beste Arbeit war die Lade für die Zehn Gebote. Die Lade war aus Akazienholz und ganz mit Gold überzogen, und auf der Oberseite waren zwei goldene Engel, deren große Flügel die ganze Deckplatte beschirmten. An den beiden Seiten der Lade waren Ringe und Stangen angebracht, damit man sie tragen konnte. Das Problem bei der Lade für die Zehn Gebote war, dass Gott befohlen hatte, sie nicht anzuschauen, weil sie etwas so Besonderes war. Einige hatten sie trotzdem angeschaut, und da war ihnen das Gesicht weggeschmolzen. Danach wollte niemand mehr die Lade für die Zehn Gebote anschauen. Bezalel war darüber ein wenig traurig, denn die Lade war seine beste Arbeit, aber er verstand, dass niemand sein Gesicht einbüßen wollte.

Weil Bezalel so tüchtig war, waren die anderen Künstler und Handwerker eifersüchtig auf ihn. Einige sagten hinter seinem Rücken: „Natürlich macht Bezalel großartige Sachen, aber Gott gibt ihm alle seine Entwürfe ein. Bezalel muss sie dann nur noch ausführen.“

Bezalel war es gleich, was die Leute redeten. Er war zufrieden, wenn Gott die ganze Ehre bekam. „Ich leihe Gott nur meine Hände-, sagte Bezalel gern. Aber Gott war nicht glücklich darüber, dass Bezalel nicht genug Anerkennung für seine Arbeit erhielt, und deshalb tat Gott schließlich etwas, was sogar für Gott äußerst ungewöhnlich war. Gott schrieb einen Wettbewerb aus. Eines Tages sahen die Menschen viele Blätter Papier vom Himmel herabschweben, und auf jedem Blatt stand diese sehr merkwürdige Aufforderung:

„Macht mir einen Briefkasten! Nehmt euch eine Woche Zeit dafür.
Unterzeichnet
Gott“

Alle waren ganz aufgeregt und rannten eifrig los, um Gott einen Briefkasten zu bauen; sie zeichneten und hämmerten und nagelten und malten. Alle großen Künstler arbeiteten im Verborgenen. Sogar die Kinder machten Briefkästen für Gott. Alle dachten, sie hätten eine Chance, den besten Briefkasten für Gott anzufertigen, weil Gott keine Anordnungen für die Machart gegeben hatte.

Die Woche war so schnell vorbei, dass nicht alle bis zur Morgendämmerung des letzten Tages ihren Briefkasten fertig hatten, und da sollte entschieden werden, wer den Wettbewerb gewonnen hatte. Alle, die mit ihrem Briefkasten fertig waren, hielten ihn noch verhüllt, damit niemand ihn sehen konnte, nur Dagliel zeigte jedermann bereitwillig seine Entwürfe. Einer von Dagliels Briefkästen war ein Fisch, der an einem Stock steckte. Der war aber nicht zu gebrauchen, weil der Briefkasten nach ein oder zwei Tagen zu stinken begann. Ein zweiter Entwurf bestand in einem großen blauen Briefkasten mit Flügeln. Der war aber auch nicht zu gebrauchen, weil Dagliel keine Idee hatte, wie er die Flügel bewegen könnte.

Als der Wettbewerb richtig anfing, war der Erste, der seinen Entwurf für einen Briefkasten Gottes zeigte, der Weinbauer Ziptor. Ziptors Briefkasten bestand aus einer ganzen Traube traubenfarbiger Luftballons, die alle mit einer Schnur an einen Briefkasten gebunden waren, der auf beiden Seiten die Aufschrift GOTT trug. Von den Schnüren hing auch eine Karte herunter, auf der stand.

„Lieber Gott,
die Gebete und Briefe in diesem Briefkasten sind von Ziptor, dem Weinbauern, zu dir emporgeschickt worden. Warmer Sonnenschein und lauer Regen auf unsere Weinberge sind uns sehr willkommen!
Viele Grüße,
Ziptor“

Ziptor war sehr stolz auf seinen Entwurf und sagte: „Mein Briefkasten mit der Luftballon-Traube wird Gebete und Päckchen schneller zu Gott bringen, als es auf irgendeinem anderen Weg möglich wäre. Ich werde bestimmt gewinnen.“ Dann ließ Ziptor die Luftballons los, und sie schwebten mit dem Briefkasten in den Himmel hinauf. Aber die Vögel pickten nach ihnen, weil sie sie für riesengroße Trauben hielten, und sie platzten. Ziptors Briefkasten stürzte auf die Erde herab.

Dann enthüllte Baruch, der Schildermaler, seinen Entwurf für einen Briefkasten Gottes. Es war ein viereckiger Kasten mit einer roten Fahne obendrauf und riesigen Schildern auf allen vier Seiten. Auf einem Schild stand: „ESST ZIPTORS TRAUBEN UND HOLT EUCH EINEN LUFTBALLON ALS GESCHENK“. Auf einem anderen hieß es: „URLAUB IN JERUSALEM? STEIGT IM GRANDHOTEL JERUSALEM AB! JEDES ZIMMER MIT EIGENEM KAMEL!“
Baruch erklärte, die Schilder seien eine neue Idee, die er entwickelt habe und die man Werbung nenne. Er sagte: „Ich denke, es werden sehr viele Menschen zum Briefkasten Gottes kommen, und alle werden die Schilder sehen. Ich habe einen Teil der Fläche auf dem Briefkasten an Personen verkauft, die den Leuten, die zu Gottes Briefkasten kommen, etwas verkaufen wollen.“ Niemand glaubte Baruch, dass die Leute etwas nur deshalb kaufen würden, weil sie es auf einem hübschen Schild angepriesen sahen.

Dann kam Ohollab an die Reihe. Als er das Tuch von dem Briefkasten abzog, den er für Gott entworfen hatte, hielten die Menschen die Luft an. Manche brachten kein einziges Wort heraus. Einige murmelten nur: „Ah! Toll! Sagenhaft!“ Ohollab hatte einen goldenen Turm gemacht. Der Turm war mit Fähnchen und Glöckchen geschmückt und rundherum mit kleinen geschnitzten Tieren und Blumen verziert. Er hatte kleine Borde und Schubladen und Schlitze und Klammern für Briefe und Päckchen, und das Ganze schimmerte und klang im Wind wie eine große Glocke. Niemand hatte ‚e etwas Schöneres gesehen. Manche sagten sogar: „Er ist noch schöner als die Lade, die Bezalel für die Zehn Gebote gemacht hat“, aber da keiner von ihnen die Lade je gesehen hatte, konnten sie das gar nicht wissen. Alle waren sich einig, dass Ohollab gewiss den Wettbewerb für den Briefkasten Gottes gewinnen werde und dass nicht einmal der große Bezalel den goldenen Briefkastenturm von Ohollab übertreffen könne.

Dann entfernte Bezalel die Umhüllung von seinem Entwurf. Die Leute brachen in Gelächter aus. Bezalel hatte Steine aufeinander geschichtet, einfach gewöhnliche Steine! Er hatte sie nicht einmal behauen oder geglättet. Er hatte sie einfach zu einer Art Tisch aus unbehauenen Steinen zusammengefügt. „Hübsche Steine!“, rief jemand Bezalel zu. „Wirklich hübsche Steine. Du hast dir nicht einmal Zeit genommen, sie so zu behauen, dass sie richtig zusammenpassen. Was soll das? Wohin tust du die Gebete und die Briefe an Gott? Dein Briefkasten ist ein Witz!“ Bezalel wartete, bis sich das Gelächter gelegt hatte, und sagte dann ruhig: „Ich habe Gottes Briefkasten aus vielen Gründen aus unbehauenen Steinen gemacht.
Ich glaube nicht, dass Gott einen Briefkasten braucht, der durch die Luft fliegt, deshalb habe ich ihn aus einem Material gemacht, das Teil der Erde ist. Das wird die Menschen lehren, dass Gott nicht nur dort oben im Himmel ist, sondern auch hier unten, wo wir leben.
Ich habe den Briefkasten Gottes nicht aus Gold’gemacht, weil nur die Worte Gottes an uns in einer vergoldeten Lade ruhen sollten, nicht unsere Worte an Gott. Wir haben schon eine goldene Lade für die Worte Gottes, und das genügt.
Ich habe den Briefkasten Gottes nicht zu einer Stätte gemacht, an der etwas verkauft wird. An Gottes Briefkasten sollten wir uns darauf besinnen, mit dem glücklich zu sein, was wir haben, und nicht dazu überlistet werden, mehr zu wollen.
Aber vor allem habe ich beschlossen, den Briefkasten Gottes aus unbehauenen Steinen zu machen, um die Menschen zu lehren, dass das, was für Steine gilt, auch für Menschen gilt. Mit unbehauenen Steinen bauen ist schwerer als mit Steinen zu bauen, die man so behauen hat, dass sie zusammenpassen, aber es ist besser, weil man dabei jedem Stein seine eigene Form lässt und nicht seine Kanten abhaut, um ihn anzupassen. Mit den Menschen ist es genauso. Es ist schwerer und dauert länger, Menschen zu lehren, wie sie zusammenarbeiten können, anstatt sie einfach herumzukommandieren und sie Dinge tun zu heißen, die sie nicht verstehen. Menschen, die so zusammenpassen, dass sie etwas Großes leisten können, sind sogar noch schwerer zu finden als Steine, die so zusammenpassen, dass man einen Briefkasten für Gott aus ihnen machen kann. Aber es ist besser, auf die Passenden zu warten.

Diese unbehauenen Steine erinnern uns daran, dass die besten Dinge, die wir in dieser Welt bauen, die Dinge sind, die alles unversehrt lassen. Gott gibt jedem von uns spezielle Kanten und spezielle Begabungen, die keinem anderen Menschen in der ganzen weiten Welt gegeben werden. Auch Steine sind unterschiedlich, bis sie behauen werden. Aber wenn wir unsere Kanten behalten und das Beste aus unseren Begabungen machen, dann ist jeder Einzelne von uns Gottes Briefkasten.“

Als Bezalel zu Ende gesprochen hatte, schwiegen die Menschen lange. Einige weinten und einige nickten und einige sagten einfach: „Ah! Toll! Sagenhaft!“

Dann sagte Ohollab. „Bezalel, wir haben uns in dir getäuscht. Wir haben gedacht, du hättest nur wunderbare Hände. Aber du hast auch ein wunderbares Herz. Du kannst jederzeit für uns Dinge bauen.“

Dann legten die Menschen ihre Briefe und Gebete auf den Briefkasten Gottes, und jeder Brief und jedes Gebet wurde beantwortet.

Das fünfte Buch Mose 27,5-6

Aus:
Rabbi Marc Gellman
Was denkt Gott?
Geschichten über Geschichten aus der Bibel
Aus dem Englischen von Christa Broermann
Carlsen Verlag, Hamburg 1998, ISBN 3-551-58021-9