Ethische Fragen – Jüdische Sichtweisen

Auf dieser Seite wollen wir Euch einige Grundsätze des Judentums zu allgemeinen ethischen Fragen vorstellen. Fragen, die unser tägliches Leben bestimmen und darüber entscheiden, wie wir unser Miteinander gestalten können.

Tikkun Olam

„Tikkun Olam“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahrzehnten „modern“ geworden ist. Der Ausdruck ist hebräisch und bedeutet soviel wie „die Welt reparieren/verbessern“. Gemeint ist damit ein Handeln, das die Welt ein wenig schöner machen hilft, für uns alle, Juden und Nicht-Juden, und uns einem harmonischem friedlichen Miteinander näherbringt.

Das Prinzip stammt aus der jüdischen Mystik. Tikkun Olam meint, dass unsere Welt zwar von Natur aus gut und richtig ist, aber dass für uns Menschen die Möglichkeit besteht, sie noch zu verbessern und zu reparieren. Wir haben alle die Möglichkeit, dazu beizutragen, die Welt perfekt zu machen.

Konkret bedeutet das, dass sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten engagieren und dabei helfen kann, die Welt ein wenig gerechter zu gestalten. Auf ganz vielfältige Weise, sei es in sozialen Projekten, im Umwelt- oder Tierschutz, bei der Unterstützung für sozial schwächere Menschen. Alles das trägt zu unserer gemeinsamen Verantwortung für die Gesellschaft bei.

Das Prinzip des Tikkun Olam ist heute auch für viele Juden, die säkular leben, eine Möglichkeit, ihre Überzeugung mit Grundsätzen des Judentums zu vereinen.

Für Kinder und Jugendliche ist es üblich, dass sie sich im Rahmen der Vorbereitungen zu ihrer Bar oder Bat Mitzwa mit einem Tikkun Olam Projekt beschäftigen und sogar einen Teil des Geldes, das sie geschenkt bekommen, dafür spenden.

In den Gemeinden wird jedes Jahr ein ‚Mitzvah Day‘ begangen. Die Gemeindemitglieder helfen in Altenheimen und Flüchtlingsunterkünften, sammeln Spenden, bauen Vogelhäuschen und Insektenhotels und vieles mehr.

In diesem Film siehst Du ein Beispiel aus Israel. Das Rehabilitationsdorf „Aleh Negev“ ist das Zuhause für körperlich stark behinderte Menschen.


Frauen im Judentum

Wir werden oft danach gefragt, welche Stellung Frauen im Judentum habe, ob Frauen nicht benachteiligt sind und ob sie ihre Haare bedecken müssen?

Grundsätzlich werden im Judentum Frauen und Männer als gleichwertig, als Geschöpfe Gottes, angesehen. Die Antwort ist dennoch nicht so einfach und hängt auch damit zusammen, dass das Judentum so vielfältig ist und viele unterschiedliche Strömungen existieren, die keine einheitliche Antwort geben. (Mehr dazu)

Im orthodoxen Judentum ist die Rollenverteilung sehr genau festgelegt. Frauen werden grundsätzlich als wichtigste Stütze des Hauses gesehen, sie sind für den Haushalt, die Erziehung der Kinder und für den jüdischen Charakter des Hauses zuständig. Das wird nicht nur als ihre Aufgabe, sondern auch als ihr Privileg gesehen. Es ist viel Arbeit, denn dazu gehört unter anderem auch, dass der Haushalt koscher geführt wird, also den jüdischen Speisevorschriften entsprechend. Das heißt aber nicht, dass orthodoxe Frauen ausschließlich zuhause sind, viele von ihnen gehen auch arbeiten und haben eine erfolgreiche Karriere.

Frauen gehen dagegen nicht, wie Männer, in eine Jeschiwa, ein jüdisches Lehrhaus, und lernen dort täglich Tora und Talmud. Sie haben auch weniger religiöse Pflichten und sitzen in der Synagoge getrennt von den Männern. In vielen orthodoxen Gemeinden bedecken verheiratete Frauen ihre Haare. Sie achten auf „Zniut“, das ist der hebräische Ausdruck für Bescheidenheit oder auch Sittsamkeit. Orthodoxe Frauen tragen stets lange Ärmel, keinen Ausschnitt und lange Röcke.

Es gibt auch innerhalb des orthodoxen Judentums eine feministische Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Frauen bei der Ausübung des Glaubens gleichgesetzt werden.

Rabbinerinnen und weibliche Gelehrte aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten, Foto: I.am.a.qwerty CC BY-SA 4.0

Im liberalen und auch konservativen Judentum sind Frauen Männern komplett gleichgestellt. Das heißt, Frauen und Männer sitzen im Gottesdienst zusammen, einige der Gebete sind angeglichen, es gibt Rabbinerinnen und Kantorinnen, Frauen werden zur Tora-Lesung aufgerufen und Mädchen feiern an ihrem 12. Geburtstag ihre Bat Mitzwa. In diesen Strömungen sind auch nicht-jüdische Lebenspartner in die Gemeinde einbezogen. Auch hier spielt Zniut eine Rolle, zeigt sich aber weniger in der Kleidung, das Haar muss nicht bedeckt werden.

Dieses Video stellt Helene Shani Braun vor, die in Berlin gerade zur Rabbinerin ausgebildet wird:

 

Homosexualität

In diesem Video der Studentin ist das Thema „queer“ bereits angesprochen. Wie steht das Judentum zu Homosexualität? Auch hier, Du ahnst es bereits, gibt es viele verschiedene Antworten. Die unterschiedlichen Strömungen im Judentum haben sehr verschiedene Standpunkte zu Homosexualität.

Sogar innerhalb des orthodoxen Judentums gibt es verschiedene Standpunkte. Die ultraorthodoxe Gemeinschaft lehnt Homosexualität nicht nur ab, sondern ächtet sie regelrecht. In vielen orthodoxen Gemeinden aber gibt es ein Umdenken, das dafür plädiert, Homosexuelle in die Gemeinden zu integrieren. Von einer Anerkennung, zum Beispiel von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, ist das allerdings noch weit entfernt.

Ganz anders ist es in den konservativen und liberalen Gemeinden. Hier werden Homosexuelle und Queere nicht nur akzeptiert, sondern selbstverständlich integriert. In diesen Gemeinden werden auch gleichgeschlechtliche Ehen geschlossen und queere Familien willkommen geheißen, und außerdem homosexuelle/queere Frauen und Männer zu Rabbinern und Rabbinerinnen ordiniert. Das bringt uns zurück zu dem Film über die Studentin Helene Shani Braun, die ihre beiden Identitäten, queer und jüdisch, ganz selbstbewusst auslebt.

In Deutschland gibt es den Verein Keshet (übersetzt: Regenbogen), der sich für die Vision eines offenen queeren Lebens und queerer Familien in jüdischen Gemeinden stark macht. Der Verein veranstaltet Schabbat-Treffen und Seminare, um jungen Menschen einen Anlaufpunkt und einen sicheren Raum zu bieten. Keshet ist im Internet unter www.keshetdeutschland.de zu erreichen.

Queer in Israel

Sexuelle Vielfalt wird in Israel nicht nur toleriert, sondern auch gesetzlich geschützt. Tel Aviv ist der Mittelpunkt der queeren Gemeinschaft in Israel. Jedes Jahr im Juni findet hier eine große „Pride Parade“ statt, eine große Straßenparty, die das queere Leben feiert. Bis zu 250.000 Menschen feiern hier zusammen und das zeigt, wie groß die Unterstützung für queere Menschen ist. Denn es geht natürlich um mehr, als nur eine Party zu feiern. Es geht darum, Solidarität zu zeigen. In Israel gibt es keine Zivilehe, das heißt, Paare können sich nur in einer religiösen Zeremonie trauen lassen, die keine gleichgeschlechtlichen Ehen ermöglicht. Aber gleichgeschlechtliche Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, werden anerkannt und sind rechtlich gleichgestellt.

In Israel gibt es aber auch noch immer viel Ablehnung und sogar offenen Hass gegenüber queeren Menschen. In Jerusalem beispielsweise ist die Situation ganz anders als in Tel Aviv. Dort leben deutlich mehr orthdoxe und ultraorthdoxe Juden, die teilweise gewalttätig gegen die ebenfalls jährlich stattfindende Pride Parade vorgehen. 2015 attackierte ein orthodoxer Mann Jugendliche, die bei der Parade mitliefen mit einem Messer. Die 16jährige Shira Banki starb kurz darauf an ihren Verletzungen. Eine nach ihr benannte Stiftung erinnert seitdem an sie und setzt sich für eine tolerante Gesellschaft ein.

 

Tier- und Umweltschutz

Auch der Tierschutz im Judentum ist durch eine Reihe von religiösen Vorschriften geregelt, so dass „Za’ar Ba’alej Chajim“, das „Leid von Lebewesen“, verhindert wird. In der Tora wird beispielsweise verboten, einem Esel zu große Last aufzubürden oder einen Ochsen bei der Arbeit leiden zu lassen. Die religiösen Vorschriften verpflichten uns dazu, Tieren gegenüber respektvoll zu sein und ihnen kein Leid zuzufügen.

Wie passt dann aber der Konsum von Fleisch dazu? Müssen alle Menschen vegetarisch leben? Nein, die überwiegende Mehrheit der Rabbinerinnen und Rabbiner spricht sich nicht dafür aus. Wir Menschen dürfen Tiere für uns nutzen und sie auch verzehren. Im Gegenteil, weiterhin gehört in den meisten Haushalten eine fleischige Mahlzeit auf den Schabbat- oder Festtagstisch. Doch die Stimmen mehren sich, die zu mehr Verzicht und bewussterem Konsum aufrufen. In Israel gibt es immer mehr Menschen, die nicht nur vegetarisch, sondern auch vegan essen. Das ist in einem Land, wo es viel frisches Gemüse und Obst und Hummus gibt auch besonders einfach.

Auch in Bezug auf Tierversuche sind die Meinungen weitgehend einig darin, dass Tiere für Versuche genutzt werden können, die zu Rettung und Heilung von Menschen beitragen. Dabei sollte ihnen möglichst wenig Leid zugefügt werden.

Zum Thema Tierschutz und Fleischkonsum gehört auch das Schächten, das Schlachten nach religiösen Vorschriften. Immer wieder gibt es den Vorwurf, dass das Schächten besonders grausam für Tiere sei und deswegen verboten werden muss. Der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz nach, muss ein Tier ausbluten, damit das Fleisch koscher, also erlaubt ist. Damit verbunden ist offensichtlich die Vorstellung, dass ein Tier mehr leidet, wenn es so geschlachtet wird. Das ist nicht der Fall, im Gegenteil, die Vorschriften für das Schächten beinhalten auch, dass das Leid des Tieres so gering wie möglich sein muss. Erst in den letzten Jahren gibt es Überlegungen, auch die Haltung der Tiere und ihre Fütterung einzubeziehen, also das, was als ökologische Tierhaltung bekannt ist. Leider ist hier noch viel Aufklärungsbedarf, besonders in Israel.

Umweltschutz

Dieses Missverhältnis zeigt sich auch in Fragen des Umweltschutzes. Es gibt eine Vielzahl von religiösen Vorschriften, die den Schutz der Natur zum Thema haben. Grundsätzlich haben wir Menschen das Recht, die Natur und alle ihre Geschöpfe für uns zu nutzen. Allerdings dürfen wir sie nicht zerstören. Hier sind wir wieder bei unserem ersten Thema angelangt, Tikkun Olam. Wir müssen unser Leben so gestalten, dass wir die Erde nicht zerstören, ihr keinen Schaden zufügen. Jeder von uns muss Verantwortung übernehmen, sich überlegen, wie er seinen Müll recycelt, wie viel er Auto fährt und wie oft er Flugreisen unternimmt.

Dass Theorie und Wirklichkeit nicht immer übereinstimmen, kann man in Israel ganz gut beobachten. Nach Feiertagen, die viele Menschen zu Ausflügen und Picknicken in Grünanlagen, am Meer oder am See Genezareth nutzen, sieht es manchmal wie auf einer Mülldeponie aus.

Aber das ist keine Ausrede, sondern zeigt nur noch deutlicher, dass jeder von uns Verantwortung übernehmen muss.

 

Organspende

Das Thema Organspende ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich Meinungen ändern können. Früher war Organspende ein großes Tabu im Judentum. Heute unterstützt ein Großteil der Rabbiner und Rabbinerinnen Organspenden, viele ermutigen sogar dazu, sich einen Organspendeausweis zuzulegen.

Bei Organspenden muss man grundsätzlich unterscheiden zwischen Lebendspenden (wenn also jemand Lebendes, Gesundes sich entschließt, Blut, Knochenmark oder auch eine Niere zu spenden) und Leichenspenden (wenn Organe nach dem Tod gespendet werden).

Grundsätzlich besteht im Judentum die Auffassung, dass unser Körper eigentlich Gott gehört. Wir können nicht frei über ihn verfügen und tun und lassen, was wir wollen, denn unser Körper ist nur eine „Leihgabe“ von Gott. Wir müssen auf diese Leihgabe gut aufpassen, dürfen sie nicht verunstalten und nicht verletzen. Ist dann aber eine Lebendspende damit vereinbar? Ja, urteilen die allermeisten Rabbiner und Rabbinerinnen und geben grünes Licht für Blut- und Knochenmarkspenden, für Haut- und Haarspenden. Und auch eine Niere kann gespendet werden, wenn medizinisch gesichert ist, dass der Spender/die Spenderin damit nicht in Gefahr gerät.

Ein wichtiges Gebot im Judentum ist „Pikuach Nefesch“, die Pflicht, Leben zu retten, auch wenn dabei religiöse Gebote übertreten werden. So darf man beispielsweise die Schabbat Gebote übertreten, wenn es einen medizinischen Notfall gibt und einen Arzt rufen oder ins Krankenhaus fahren (was eigentlich an Schabbat nicht geht). Oder man darf das Fasten an Jom Kippur abbrechen, wenn es gesundheitliche Gefahr gibt. Und genauso gilt „Pikuach Nefesch“ auch in der Frage der Lebendspenden.

Der israelische Organspendeausweis, die Adi-Karte

Etwas schwieriger ist die Entscheidung bei einer sog. Leichenspende, wenn also die Spender verstorben sind und es darum geht ihr Herz/ihre Niere/ihre Leber jemand anderem, der sie dringend benötigt, zu spenden. Die Diskussionen dabei drehen sich vor allem um die Frage, wann genau der Zeitpunkt des Todes festgelegt wird. Wann ist ein Mensch tot? Wenn sein Herz nicht mehr schlägt oder wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert?

Für Organspenden werden die Organe überwiegend bei Patienten entnommen, die hirntot sind. Das widerspricht der Auffassung im Judentum, dass ein Mensch lebt, solange sein Herz schlägt. Tote müssen nach jüdischer Auffassung außerdem so schnell als möglich beerdigt werden. Der Körper muss dabei möglichst unversehrt und als Ganzes bleiben. Das alles spricht gegen Organspenden. Aber auch in dieser Frage spielt wiederum das Gebot der Pikuach Nefesh eine große Rolle. Immer mehr Rabbiner und Rabbinerinnen sind heute der Meinung, dass Organspenden nach sorgfältiger Überprüfung der Umstände erlaubt sind. In Israel wurde 2008 ein Gesetz erlassen, das den Zeitpunkt des Todes festlegt, wenn der Hirntod auch zu Atemstillstand führt. Das israelische Oberrabbinat hat daraufhin Organspenden unter diesen Voraussetzungen als zulässig erklärt.