Gute Geschichten haben ihre eigene Wahrheit, wie die alte Legende beweist, die in die frühe Zeit Israels zurückführt, noch bevor König Salomo in Jerusalem auf dem Berg Morija den Ersten Tempel erbauen ließ…
Erzählt von Moira Thiele
Einen großen und prachtvollen Tempel zu Ehren des einzigen Gottes zu bauen, diesen Wunsch hatte schon König David, als er die Bundeslade in feierlichem Festzug nach Jerusalem gebracht hatte. Sie bewahrte die Steintafeln mit den zehn Geboten auf, die für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen sorgen sollten, für alle Zeiten. Die Tafeln sollten endlich statt in dem Zelt der Wanderungen in einem richtigen Tempel ihre würdige Heimat finden.
Doch die Erfüllung dieses Wunsches blieb König David verwehrt, denn an seinen Händen klebte Blut, und nicht nur das Blut vieler Kriege.
Er hörte die Stimme des Herrn, die ihm verwehrte, den Tempel zu bauen, ihm aber ankündigte, sein Sohn werde ein Mann des Friedens sein, der solle das Heiligtum bauen. Und so nahm König David vor seinem Tode seinem Sohn und Nachfolger Salomon das Versprechen ab, den Tempel aus den Zedern des Libanon und weißem Stein, Kupfer und Gold zu errichten.
König Salomon übertraf seinen Vater noch an Reichtum und Macht, besonders aber an Weisheit. Sein Volk liebte ihn, und die Völker ringsum sprachen seinen Namen mit Hochachtung aus. Doch die Jahre gingen dahin, und sein unerfülltes Gelübde bedrückte Salomon sehr.
Eines Nachts erschien ihm König David im Traum und stellte ihn mit finsterem Antlitz zur Rede: „Warum hast du dein Versprechen nicht erfüllt? Zum Tempel des Heiligen ist noch nicht einmal der Grundstein gelegt!“ – „Vater, Gott ist mein Zeuge,“ rief Salomon, „dass ich noch nicht den Platz gefunden habe, der des Tempels würdig wäre!“
Er erwachte und fand keinen Schlaf mehr. Also erhob er sich von seinem Lager, kleidete sich an und verließ den Palast. Der Herrscher Israels wanderte allein durch die nächtlichen Gassen Jerusalems, vorbei an Gärten und Hainen, bis er zum Berge Morija kam. Es war gerade Erntezeit, und auf der Südseite des Berges standen schon die Garben.
Salomon lehnte sich an den Stamm eines Olivenbaumes und schloss die Augen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Im matten Schein des Mondes erblickte er einen Mann, der eine große Weizengarbe trug. „Ein Dieb!“ fuhr es Salomon durch den Sinn. Schon wollte er aus seinem Versteck hervortreten, doch dann zog er es vor, abzuwarten und zu sehen, was der Mann vorhatte.
Der nächtliche Besucher stieg mit der Garbe über eine Mauer, stellte sie dahinter ab, kehrte zurück zur anderen Seite der Mauer, wo viele weitere Garben standen, und fuhr fort, sie hinüber zu schaffen, bis alle Garben auf der anderen Seite waren. Schließlich verschwand er in der Dunkelheit.
Der König überlegte, wie er diesen Diebstahl bestrafen sollte. Da kam erneut ein Mann, der sich umsah, als wollte er sich vergewissern, dass ihn niemand bemerkt hatte. Dann tat er genau das Gleiche wie der erste, nur in umgekehrter Richtung. Er trug die Garben wieder zurück. „Ein Dieb bestiehlt den anderen!“ dachte Salomon.
Am Morgen ließ er die Besitzer der benachbarten Felder in seinen Palast holen, zuerst den älteren, den er in einen Nebenraum führen ließ, der vom Thronsaal nur durch einen Vorhang abgetrennt war und von dem aus man hören konnte, was im Saal geschah. Den jüngeren Mann ließ er vor seinen Thron bringen und fragte ihn streng:
„Sag mir, mit welchem Recht stiehlst du Getreide vom Feld deines Nachbarn?“
Der Mann blickte Salomon überrascht an und erwiderte: „Niemals würde ich so etwas tun, mein König! Das Getreide, das ich auf das Nachbarfeld brachte, gehört mir.
Das Feld gehört meinem Bruder, und ich musste ihm die Garben heimlich bringen, denn er hätte sie sonst nicht von mir angenommen. Niemand sollte davon erfahren, aber da du davon zu wissen scheinst, will ich es dir erklären.
Wir beide, mein Bruder und ich, haben gemeinsam von unserem Vater ein großes Feld geerbt. Ich lebe allein; mein Bruder hat Frau und Kinder. Wir beide sind schon so lange zerstritten, dass ich nicht einmal mehr weiß, wer von uns den Streit begonnen hat.
War es mein Bruder, der als Älterer die größeren Rechte beanspruchte, oder war ich es selber, der sich im Nachteil und ungerecht behandelt fühlte? Aus unserem Streit wurde erbitterte Feindseligkeit, bis keiner mehr mit dem anderen redete.
Und schließlich errichteten wir eine Mauer, mitten durch unser Land, und säten und ernteten von nun an schweigend unseren Weizen.
Eines Nachts jedoch ging mir all dies durch den Kopf, und mich reuten die bösen Worte, die ich ihm in der Hitze des Streites an den Kopf geworfen hatte. Schlaflos wanderte ich über mein Feld bis an die Mauer, sah auf seine Garben und dachte bei mir
Das ist nicht gerecht – mein älterer Bruder hat eine große Familie zu ernähren, und ich bin Junggeselle. Ich brauche nicht soviel Weizen, ich werde ihm von meinem Weizen abgeben. Da ich wusste, dass er von mir keinen Halm annehmen würde, schaffte ich die Garben nachts auf sein Feld.“
Salomon schickte ihn in ein Seitengemach, von wo aus er alles mithören konnte.
Dann ließ er den älteren Bruder holen, der hinter seinem Vorhang die Rede seines Bruders mit angehört hatte und sehr bewegt war.
„Wir wissen nun“, sprach Salomon, „was dein jüngerer Bruder auf dem Feld tat, aber was hattest du dort zu suchen? Ich hielt dich für einen Dieb!“
„Aber nein! Du weißt, er lebt allein, ich dagegen habe eine große Familie, die mir auf dem Felde hilft. Er aber muss Schnitter, Garbenbinder und Drescher bezahlen, und braucht daher mehr Geld. Von mir würde er keinen Halm annehmen, und so bringe ich ihm heimlich ein paar Garben. Mir werden sie nicht fehlen, und für ihn sind sie sicher eine Hilfe!“
Da rief Salomon den jüngeren Mann aus dem Nebenraum, und die beiden Brüder umarmten einander voll Freude.
Salomon legte den Arm um ihre Schultern und sprach:
„Erfüllt mir eine Bitte: Verkauft mir euer geteiltes Feld! Denn dies ist wahrhaft heiliges Land, dieser Ort, wo Brüder in bitterem Streit gelegen sind und doch den Mut hatten, über ihre eigene Mauer zu sehen und wieder gelernt haben, einander zu lieben.
Auf diesem Stück Erde will ich den Tempel zu Ehren des Herrn erbauen!“