Das folgende Märchen stammt aus der orientalisch-sephardischen Tradition, es entstand und spielt in Andalusien in der Epoche der maurischen Herrschaft in Spanien, in der meist fruchtbaren und friedlichen Zeit der Convivencia, des Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen.
Erzählt von Moira Thiele
Vor mehr als tausend Jahren reichte der Orient noch weit in den Westen Europas hinein.
Kriegerische Araber- und Berberstämme hatten von Nordafrika aus fast die ganze iberische Halbinsel erobert und nannten ihr neues Land Al Andalus.
In der prachtvollen Hauptstadt Cordoba regierte ein Kalif, der mit starker Hand und strengen Gesetzen ein mächtiges Reich errichtet hatte.
Es lebten dort auch viele Juden, und die Ärzte, Übersetzer, Philosophen und Bankiers unter ihnen waren hoch angesehen und begehrt bei Hofe. Sie besaßen nahe dem Palast, dem Alcazar, schöne Häuser mit schattigen Höfen und herrlichen Gärten. Die armen Juden aber lebten in Hütten am Rande der Stadt und durften nur niedere, schlecht bezahlte Arbeiten verrichten. Kein Wunder, dass sie oft vor leeren Schüsseln saßen.
Einer von ihnen war ein Wasserträger. Von Tagesanbruch bis zum späten Abend schleppte er seine schwere Last, doch sein Lohn reichte nur für ein kleines Brot, ein paar Zwiebeln und bisweilen etwas Milch.
Gott hatte ihn jedoch reich mit Kindern gesegnet, und die wenigen Bissen, die er an sie verteilte, konnten ihren Hunger nicht stillen. Der unglückliche Vater wusste sich keinen Rat – er arbeitete noch härter, doch der Hunger blieb ein ständiger Gast in seiner Hütte.
In seiner Verzweiflung ging der Jude eines Tages auf den Markt und mischte sich am Stand eines Bäckers unter die Kauflustigen. Der köstliche Duft von frisch Gebackenem stieg ihm in die Nase, und als der Bäcker einmal nicht hinsah, entwendete er schnell ein Brot. Aber noch bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, hatte der Bäcker den Diebstahl bemerkt und rief die Wache des Kalifen herbei.
Ehe er sich’s versah, war der arme Wasserträger verurteilt und wurde nach den geltenden Gesetzen zum Galgen geführt.
„Hast du noch einen letzten Wunsch?“ fragten ihn die Soldaten.
„Was könnte ich mir schon wünschen“, sagte der Verurteilte traurig, „bald ist es um mich geschehen. Nur schade, dass ich auch mein Geheimnis mit ins Grab nehmen muss.
Wenn der Kalif wüsste, was ich weiß, würde er mich bestimmt anhören.“
Die Soldaten blieben stehen, hielten Rat und meinten schließlich: „Der Galgen läuft dir nicht weg, und vielleicht kennst du ja wirklich ein nützliches Geheimnis!“
Und sie führten ihn zum Palast des Kalifen.
Als der Herrscher erfuhr, dass der Mann, der auf dem Markt Brot gestohlen hatte, ein großes Geheimnis besitzen sollte, winkte er den Höflingen, sie allein zu lassen.
„Nun?“ sagte er zu dem verurteilten Juden, „wir sind allein. Sprich!“
„Mächtiger Herr“, sagte der Jude, „ich kenne das Geheimnis des Granatapfelbaums.
Ich weiß, wie man seinen Samen pflanzt, damit er über Nacht zu einem Baum heranwächst. Mein Vater hat mich dieses Geheimnis gelehrt, und er hat es wiederum von seinen Vorvätern ererbt. Wenn du willst, kann ich dir meine Kunst vorführen.“
Das gefiel dem Kalifen. Er besaß zwar schon ungeheure Schätze, aber kein solches Wunder, das er hätte vorzeigen können, um illustre Gäste zu beeindrucken.
Er befahl, alles vorzubereiten, und alsbald versammelte sich dann der ganze Hofstaat aufgeregt und voller Neugier im Garten.
Der Wasserträger hob eine Grube aus, nahm einen Granatapfelkern in die Hand und sprach: „Großer Herrscher, über Nacht wird aus diesem Samen ein Granatapfelbaum wachsen. Jedoch nur ein Mensch, der noch nie etwas gestohlen hat, darf den Samen pflanzen. Da ich selbst ein Dieb war, darf ich es nicht tun. Bestimme du jemand, der an meiner Stelle den Samen in die Erde legt, und schon morgen sollst du reife Granatäpfel pflücken!“
Da wandte sich der Kalif an seinen Oberhofmeister: „Pflanze du den Samen,“ befahl er ihm, „und morgen soll wieder der ganze Hof in den Garten kommen, damit wir uns überzeugen, ob der Granatapfelbaum auch wirklich gewachsen ist. Bis dahin soll der Jude am Leben bleiben.“
Am nächsten Tag begab sich der Herrscher mit seinem ganzen Gefolge schon früh am Morgen in den taufrischen Garten, vorbei an plätschernden Brunnen und üppigen Blumenbeeten. Als sie zu der Stelle kamen, wo der Oberhofmeister den Samen in die Erde gelegt hatte, war dort nichts von einem noch so kleinen Bäumchen zu sehen.
Da ließ der Kalif den Verurteilten vorführen und herrschte ihn an: „Wenn du geglaubt hast, du könntest so der Strafe entgehen, so hast du dich getäuscht. Jetzt sollst du einen grausamen Tod sterben, denn du bist nicht nur ein Dieb, sondern auch ein Lügner und Betrüger!“
Der Todgeweihte blickte den Kalifen fest an. „Für das Wunder übernehme ich die Gewähr. Ich bin sicher“, sagte er ruhig, „dass der Granatapfelbaum nur deshalb nicht gewachsen ist, weil dein Oberhofmeister die Bedingung nicht erfüllt hat. Sicher hat er einmal etwas gestohlen und daher konnte der Baum nicht wachsen.“
„Was sagst du dazu?“ fragte der Kalif seinen Oberhofmeister. Der errötete und stotterte: „Mein Gebieter, der Jude hat recht. Vor vielen Jahren habe ich einen Ring genommen, der vom Tisch gefallen und unter den Teppich gerollt war. Hab Erbarmen mit mir – ich werde zurückerstatten, was mir nicht gehört.“
Der Kalif runzelte die Stirn und befahl seinem Schatzmeister, den Samen zu pflanzen. Nach dem peinlichen Erlebnis hatte indes der Schatzmeister keine Lust, sich zu bloßstellen zu lassen. Daher sagte er leise: „Du weißt, großer Herrscher, welche Schätze täglich durch meine Hände gehen. Alles wird sorgfältig in ein Buch eingetragen. Einmal jedoch konnte ich nicht widerstehen und habe eine seltene Perle an mich genommen, die ich nicht eingetragen hatte. Ich schwöre dir, dass ich sie noch heute zurückbringen werde, und ich flehe dich an, mir meine Unehrlichkeit zu verzeihen!“
Der Kalif blickte zornig um sich, um einen anderen Würdenträger auszusuchen, als der Wasserträger zu ihm sprach: „Mächtiger Herr, ich rate dir, von niemandem mehr zu verlangen, den Samen in die Erde zu pflanzen. Der Mensch kann nur sich selbst vertrauen. Daher ist es besser, wenn du selbst es tust.“
Da breitete sich eine seltsame Stille aus. Der Kalif schwieg, und auch die Höflinge verstummten. Schließlich sagte der Kalif: „Ich gestehe, dass auch ich nicht ohne Schuld bin. Als Knabe habe ich einmal meiner Mutter eine glänzende Nadel gestohlen.“
Dann lächelte er und fuhr fort: „Ich sehe, dass dein größtes Geheimnis deine Weisheit ist. Deine Schuld sei dir verziehen; gehe in Frieden.“
Und nachdenklich fügte er hinzu: „Das Schmuckstück kann ich meiner Mutter nicht zurückgeben, denn sie weilt schon lange bei Allah. All die Jahre habe ich es in einem Versteck aufbewahrt und fast vergessen. Nun sollst du es haben.“
Die Nadel erwies sich als eine kostbare Brosche, die funkelte nur so vor Diamanten und war von so großem Wert, dass der Wasserträger und seine zahlreiche Familie nie mehr Hunger leiden mussten.