Diese Legende spielt in einem Schtetl in Osteuropa, wo die Juden alle einander kannten und sich mit „Sholem Alejchem“ grüßten – „Friede sei mit euch.“ Sie handelt vom Propheten Elias, der in den alten Geschichten oft unerkannt übers Land geht, um die Herzen der Menschen zu prüfen, und um zu helfen oder zu strafen, wo es Not tut.
Erzählt von Moira Thiele
Eines Tages kam der Prophet Elias, als Bettler verkleidet, in ein kleines Shtetl im großen russischen Reich. Dort lebten zwei Brüder, ein armer und ein reicher. Bei dem Reichen rollte der Rubel, beim Armen nicht mal eine kleine Kopeke. Der arme Bruder war gut und freundlich, der reiche aber hart und geizig, und dachte nicht daran, seinem Bruder zu helfen.
Der Prophet im Bettelgewand ging zuerst zu dem reichen Bruder, der gerade vor seinem Hoftor stand, und grüßte ihn höflich. „Sholem alejchem, einen guten Tag! Werter Herr, seid so gut und gebt mir ein bisschen Geld, nur eine Kopeke, dass ich mir etwas zu essen kaufen kann!“
Der Reiche schrie wütend: „Gar nichts kriegst du von mir! Verschwinde, du Schnorrer, oder ich hetze meinen Hund auf dich!“ Doch der Hund, der knurrend und zähnefletschend herbeigelaufen kam, wich zurück vor dem Bettler und legte sich ganz sanft auf den Boden, sehr zum Ärger seines Herrn.
Der Bettler ging weiter, und bald kam er zur Hütte des armen Bruders, klopfte an und bat: „Seid so gut und gebt mir nur eine Kopeke, ich hab Hunger!“ – „Du siehst doch selbst, wie arm ich bin! Ich kann dir kein Geld geben, aber was ich habe, will ich mit dir teilen.“ Er lud den Bettler ein, sich zu setzen, und sie teilten sich das Wenige, was im Haus war: ein Stück Brot, ein halber Hering, heruntergespült mit etwas kaltem Tee, der noch von gestern übrig war. Sie aßen und redeten miteinander, und dann stand der Bettler auf und schickte sich an, weiter zu ziehen. Doch vorher bedankte er sich herzlich bei seinem Gastgeber und sagte: „Was Ihr anfangt zu tun, soll kein Ende nehmen!“ Ein seltsamer Wunsch – dass man mit dem, was man beginnt, nicht aufhören soll?!
Der arme Mann dachte sich nicht viel dabei. Er sah nur, dass auf dem Bänkchen sein Talles, sein Gebetsschal, liegen geblieben war, und er legte ihn zusammen. Er traute seinen Augen nicht: auf einmal lag da noch ein Talles, aber ein viel schönerer Schal als sein eigener, von ganz feinem Stoff. Also faltete er den auch zusammen. Doch da lag noch ein dritter und ein vierter, und die Schals nahmen kein Ende. Da erst begriff er, was der Bettler gemeint hatte, und dass das kein einfacher Bettler gewesen war, sondern der Prophet Elias! Schließlich war seine ganze Stube voll mit Gebetsschals; er machte einen Laden auf und verkaufte sie, und seine Not hatte ein Ende.
Natürlich verbreitete sich die Nachricht davon wie ein Lauffeuer und gelangte auch zu den Ohren des reichen Bruders. Der dachte sich sein Teil und hätte sich den Bart ausreißen können, dass er zu dem vermeintlichen Bettler so grob gewesen war. Er hoffte inständig, dass dieser sich noch einmal sehen ließe, und ihm auch so einen Segensspruch geben würde.
Er dachte sich: „Ich werde bestimmt nicht bloß Tuch um Tuch zusammenlegen wie mein Bruder, der Nichtsnutz, der Schnorrer! Ich werde goldene Rubel zählen!“ Und für alle Fälle stellte er eine ganze Stube mit leeren Truhen voll, in die er die Haufen Gold hinein füllen wollte. Auf den Tisch legte er einen Goldmünze, damit er etwas hätte, womit er anfangen könnte zu zählen.
Und tatsächlich! Kurz darauf sah er den Bettler von ferne, lief ihm entgegen und rief: „Scholem alejchem, teuerer Freund – kommt herein und seid mein Gast!“ Und er bat den Bettler unter vielen Verbeugungen in sein Esszimmer. Es gab zu Essen und zu Trinken von allem, was gut und teuer ist: eine köstliche Hühnerbrühe, Gefilten Fisch, ganze gebratene Hühner und zum Nachtisch einen süßen Kugel-Auflauf, dazu die besten Weine – es war so fein wie bei Rothschilds!
Als sie mit dem Mahl fertig waren, stand der Bettler auf und sagte zu seinem Gastgeber: „Ich danke Euch! Möge das, was Ihr beginnt, kein Ende nehmen!“
So ein Masel! dachte sich der reiche Mann und schob den Bettler rasch hinaus, denn er konnte es nicht erwarten, mit dem Zählen der Goldmünzen zu beginnen. Er stürzte in die Stube mit den leeren Truhen und griff schon zu der Münze, mit der er anfangen wollte, doch dann besann er sich, dass er ja die ganze Nacht hindurch zählen würde, und es daher nach all dem Wein, den er getrunken hatte, besser wäre, sich vorher zu erleichtern . Also ging er auf den Hof in eine dunkle Ecke… Nun, was soll ich euch sagen – der Wunsch des Propheten Elias ging in Erfüllung!
Und so steht er noch und pischt bis zum heutigen Tag!